Wo alles mal angefangen hat ….

Die Keimzelle des russischen Universums befindet sich genau hier: Novgorod, (223.000 Einwohner) die älteste Stadt des Landes wurde vor genau 1157 Jahren gegründet. Also ein echtes Schwergewicht auf der touristischen Landkarte.

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Jede Region wie ein eigenes Land: Die Novgorodskaya Oblast ist mit 54.000 Quadratkilometer so groß wie NRW und Rheinland Pfalz zusammen, aber mit 615.000 Einwohnern sehr sehr dünn besiedelt.

Eigentlich wollte ich ja bei Novgoroder übernachten, hatte gleich zwei Angebote dafür, (Couchsurfing) war aber bei der Ankunft dermaßen abgerissen, dass nur noch eines der Hostels als beste Lösung galt.
Es geht: Acht Euro für Bett und Dusche (!) sind einfach ok. Luxus: Ich liege auch noch allein im 8-Bett Zimmer, hab absolut Ruhe…

16.06.2016

Ich treffe Igor, der als gescheiterter Germanistikstudent ein gutes Deutsch kann, jetzt mit 28 sich als Kellner verdingt und mich entschuldige, sein Angebot am Stadtrand Quatier in seiner kleinen Wohnung zu nehmen, erstmal nicht angenommen zu haben.
Dafür treffen wir uns heute mal so, erfahre jede Menge über einen so lebendigen Geist; Igor war mal eine Zeit bei Paderborn
wo noch heute seine Mutter lebt, versteht viel von Geschichte und Gesellschaft. Ich versuche ihn zu bewegen, wieder ins Akademische Umfeld zurückzukehren.

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Mit Igor im historischen Stadtkern unterwegs, zeigt er mir seine alte Stadt. Links dürfte die älteste Kirche (über 1000 Jahre) von Russland stehen.

Alles ist hier so sauber, so relaxt. Keine extremen Touristenmassen vermasseln diesen besonderen Ort. Einerseits ein Segen, anderseits fühle ich mich bewegt zu verkünden: Leute, kommt in dieses Land, seht es euch an.
Novgorod ist gut zwischen den Metropolen Petersburg (180 km) und Moskau zu erreichen, hier gibt es alles, dazu gut und günstig. Irgendwie noch etwas unendeckt, noch so ursprünglich, gelassen und ruhig.

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Eine komplette Stadtmauer umgiebt das alte Zentrum, den "Kremlin" (Kreml) was Festung bedeutet, war im Mittelalter mal Hauptstadt der mächtigen Handelsrepublik Novgorod.

Groß wurde Novgorod komischerweise durch die Schifffahrt über den Wolchow Fluss, der zur Ostsee den Anschluss sogar zum alten Hansebund verschaffte, somit ein Binnenhafen in Zeiten als St. Petersburg noch garnicht existierte.

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Die Flusslage machte die Stadt einst so groß wie Moskau, verlor aber später das Rennen sodass heute die Provinzstadt auf den Tourismus hofft.

Für die Russen hat Novgorod nahezu was heiliges, weil hier die allererste Zündung, staatlichen Gemeinwesens geschah; Rurik der Waräger gründete vor 1157 Jahren hier in den Sümpfen und Seelandschaft diesen Stützpunkt, baute ihn mit Hilfe der einheimischen Ilmensee Slaven zum „Novgoroder Rus“ aus.
Der Name „Russland“ war geboren; „Rus“ – was ableitend von der schwedischen Region Roslagen abstammt, bezieht sich interessanterweise auf die Waräger, ein skandinavisches Seefahrervolk, eng verwandt mit den Wikingern, die über die langen Flüsse den Handelsweg nach Süden, ins damals große, byzantinische Reich suchten.
Der Novgoroder Rus war somit das erste Reich, schnell aber abgelöst vom Kiever Rus, gegründet von Ruriks Sohn Oleg, der viel weiter im fruchtbaren Süden somit die Stadt Kiev gründete und ein sehr viel größeres Gebiet beherrschte.

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Mit den Wikinger-ähnlichen Warägern kam die erste Hochkultur über die Flüsse ins weite Land. Aus dem Süden wiederum die Schrift und Christenheit.

Nur wenig später fand die Schrift Einzug in diese ersten Reiche des „Rus“, der griechische Mönch Kyrill von Thessaloniki prägt bis heute noch den Namen der kyrillischen Schrift. Diese leitete sich von den alten Griechen ab, die ja schon vor 4000 Jahren das schreiben lernten, passte sich der slavischen Sprachen an mit ihren anderen Lauten, und schnell übertrug sich somit auch die Botschaft vom lieben Gott. Die orthodoxen Kirchen entwickeln sich im Laufe der Jarhunderte über all diese weiten Ländereien zu einer so eigenen Anschauung der Christlichen Story.

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Die erste Festung von Rurik, heute eine Baustelle etwas außerhalb der Stadt, Russlands älteste Gemäuer.
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Ob das der alte Rurik sein soll, ganz unten im Stammbaum dieser alten Herrscher?

17.06.2016

Mit reichlich Restalkohol im Blut wache ich auf, wollte heute eigentlich weiter. Gestern feierte ich noch mit dem Australier Thomas, ordentlich in die Nacht. Er spendierte mir endlos Biere vom Fass… die Feierlaune nach all den Strapazen war ja schnell zugegen. Faul hänge ich im Sofa des Hostels, Thomas liegt noch in voller Abendkleidung im Doppelbett. Ich scype mit Mama eine volle Stunde, erfahre von Freund Georg, dass sein Jakobsweg super verläuft, er nun 600 km gewandert ist.
Ich wandere heute aber nicht, lese diese Nachricht von Ivan, der ist nämlich Journalist vom Radio Novgorod und will mich jetzt treffen.
Alle Klamotten zusammenpacken, frisch gewaschene und wieder trockene Wäsche in den Wanderwagen und die Treppen runter mit Allem, raus aus dem Hostel zum Wolchower Fluss hinter der Altstadt.
Ich schwitze bei schwülen 28 Grad, treffe dann Ivan der mich mit seinem Drohnen-Ufo empfängt, filmt mich von hoch oben von seinem ferngesteuerten Fluggerät aus. Ich bin begeistert, will auch so ein Ding haben.

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Krass: Ivan mit seiner Filmdrohne, die 1000 Meter weit fliegen kann, trifft mich zum Interview.

Wanderwagen ab im Auto, vertaue alles Gepäck und los gehts zum Holzdorf außerhalb der Stadt, ein Museumsdorf was ich unbedingt sehen wollte, aber gestern resigniert dachte, das alles nicht zu schaffen im logistischen Aufwand bei so wenig Zeit.
Der 33 jährige Ivan kennt hier Mann und Maus, lädt mich ein, führt mich durch das Dorf alter, traditioneller Holzhäuser. Selbstverständlich hat auch ein ganzer Schwall Chinesen den Ort entdeckt und fotografiert wie von Sinnen.

Die Bauweise war bis vor ca 100 Jahren seit gut fünf Jarhunderte das traditionelle Bild russischer Siedlungen. Allerdings zeigt das Museumsdorf lediglich die besseren Habitate von damals reicheren Bürgern, sowie überwiegend Kirchen und Kapellen.
Die übergroße Mehrzahl der damals armen Leute, lebte in sehr einfach gezimmerten Hütten, Lehmbauten oder simpelen Steinhäusern, was hier garnicht rüberkommt.

Jaaa, was könnte ich alles noch erzählen.
So eine dichte, volle, intensive – und schlafarme – Zeit, bekomme vom Sandmännchen klare Anweisungen soeben, halte aber  noch ein wenig aus, will mich noch bei Ivan so sehr bedanken für diesen tollen Tag, für die Einladungen, Erlebnisse und dem Gefühl des Wilkommenseins.

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"Ivan der Freundliche" - spendiert mir noch was Leckeres + Cappuccino in seinem Lieblingslokal.
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Alle wollen ein Foto mit dem Weldwanderer; als Ivan erzählte was ich mache, ist erstmal schnell eine Fotosession einmal mit den lieben Damen, aber auch mit dem Lokalbesitzer angesagt.

10.450 Kilometer Russland.
Ich glaube es selbst immer noch nicht, aber es scheint auch eine gute Zeit zu werden; Leid und Freud, so eng beisammen. Ein Rythmus der zuversichtlich macht es zu schaffen. Mittlerweile gibt es schon zwei Artikel in Zeitungen und Internet (Leningrad Region) bald auch hier in Novgorod, und Ivan ruft sie alle an, die Kollegen in den Städten da Draußen wo ich überall noch durch komme ….

Russland, Russwelt, ein Land wie ein Kontinent, so voller toller Leute.
Helft mir weiterhin, schenkt mir Kilometer.
Ich habe am 22 Juni Geburtstag, werde dann 38, brauche immernoch eure Hilfe die mich schon bis hier brachte.

…Jeder Kilometer für 50 Cent und Wladiwostok ist zu packen, helft mir mein Projekt bekannter zu machen, der „Deutsch Russische Freundschaftslauf“ hat offenbar das Zeug eine größere Mediennummer zu werden, was nicht nur mir, sondern unserem Europa, der Deutsch-Russsichen Beziehungen in diesen Zeiten, wirklich gut tun würde.


… Noch 170 Euro in der Kampfkasse …

Lieben Dank für jede noch so kleine Hilfe:
IBAN: DE70 4265 0150 1126 0186 37
BIC: WELADED1REK
Bankleitzahl: 42650150
Sparkasse Vest Recklinghausen

Angriff des Wachtelkönigs ………..

Als wäre das Theater noch nicht genug, reißt ein direkter Angriff aufs Zelt meinen ohnehin schlechten Schlaf in Stücke, stehe wie ne eins, rufe laut und trete voller Panik um mich.

Was ist passiert:
In einem Land wo es Bären und Wölfe in dieser nun echten Wildnis gibt, bleibt man eben nicht wirklich gelassen wenn das Zelt von außen halb abgerissen wird.
Irgendwie im Halbschlaf hörte ich aber noch sowas wie Flügelschläge, also nicht wirklich Bärig oder Wölfisch, legte mich dennoch hell-aufgeregt wieder hin und versuchte weiterhin zu ruhen, es ist fast Mitternacht, der Stress vom Vortag ließ mich offenbar etwas krank werden; die Nase ist zu, Hustenreiz und konfuse Träume.

Zak, Flügelschläge und die Zeltplane schleudert wild über mir.

Jetzt ist’s klar, Angriff der Vögel ist angesagt, ich glaub es alles nicht.

Jacke an, komplette Verhüllung anlegen, (draußen schwirren ja unermüdlich hunderte Blutdurstige Moskitos) und nachgucken was passiert ist.
Die Plane ist zum Glück (noch) heil, aber muss einsehen hier auf den weiten Grasebenen klar unwilkommen zu sein; ich stapfe durch das hohe Gras hinaus in die „weiße Nacht“, eine unglaubliche Szenerie, es sirrt gnadenlos um die Ohren, doch gut eingepackt sticht so schnell kein Insekt.
Es knarrt und knarrt. Laut und ununterbrochen ein ganz typischer Laut der weiten Gras Ebenen dieses Landes, so allgegenwärtig dass es einiges an Contenance braucht um es auszuhalten zur Nachtruhe in der Wildnis.

Ich lokalisiere einen dieser akustischen Rätsel, ahne schon dass es wohl was Federartiges sein müsste, bin aber nicht sicher, weiter ran, weiter ran, halte den Arm bereits vorm Gesicht, wer weiß was kommt, es wird echt laut „knarr, knarr“ – plötzlich Ruhe, ……. es flattert blitzschnell ein Taubenartig, gedrungenes Wesen von dannen….. uff, das sind sie also, wieder mal Plagegeister, diesmal für die Ohren der Nacht.

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Der Wiesenknarrer, oder Wachtelkönig, kann fürchterlich laut die Gegend unsicher machen, sehe ihn allerdings nie, da sie versteckt im Gras ihren Lärm stundenlang ausleben.

Um das Nachtlager sehe ich ihn dann, den Übeltäter, fliegt lautlos im weitem Kreisen ums Zelt, baut offenbar den einen oder anderen Angriffs-Sturzflug darauf ein….. ganz offenbar um das nahegelegene Bodennest im Gras zu verteidigen.

Nicht aus Liebe zum Tier, sondern meiner Ruhe wegen und vor allem das Zelt vor Beschädigung zu wahren, muss ich jetzt auch noch umziehen; bei Mitternächtlichen Dämmerlicht räume ich in aller Ruhe das Lager ein, und baue es 200 Meter, fast neben der Straße wieder auf.
Keine drei Stunden Schlaf sollen folgen.

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Der Schein trügt: So friedlich die Wiese um so garstig ihre Fauna; hier "herrscht" offensiv der WachtelKÖNIG. - Das Zeltlager beim Abbau um sechs Uhr früh.

15.06.2016
Zurück aus der Traumwelt die nur kurz eine Pause von all dem Schlamassel hergab, schwitzt das Gesicht im aufgeheißten Zelt inmitten der Sonne, es ist gerade mal sechs…. uff, muss weiter, muss trinken. Oh je, nur noch zwei, drei Schlücke in der Pulle.
Ich fühl mich komplett gerädert, die Knochen wie aus Eisen, die Haut gefettet in tagelanger Abstinenz gründlicher Reinigung.
Es muss weitergehen, schnell raus aus dem Gras, klatsche ein Dutzend Moskitos, und bin wieder auf dem Asphalt.

Dort muss jetzt was geschehen, bin am Ende und weiß kaum wie’s fußläufig noch weitergehen soll bis ins 45 km entfernte Novgorod.
45 Kilometer, selbst unter besten Bedingungen eine Mega-Etappe.
Ich laufe und ja, halte den Arm weit hinaus mit der flachen Hand.
So trampt man in Russland, gehe und gehe, endlose Kilometer über einen nun elend eintönige Waldstraße, keine hält an…. ich versuche nur die großen Autos, sowie Kleinlaster zu stoppen.
Halte auch die mittlerweile leere Plastikpulle in die Luft um zu zeigen dass ich Wasser brauche.
Nix zu machen, kein Auto stoppt mal…. der „Bomsch“ soll doch vergammeln hier am Straßenrand….

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93 Kilometer ohne eine Chance Wasser oder Essen zu finden, zu kaufen; die langweilige Landstraße ohne Dörfer zwischen Luga und Novgorod, forder alles von mir !!!
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Der trostlose Blick auf die Reste vom Vortag: Schlecht geplant mit einer Handvoll Essen sollen noch 45 km bewältigt werden.

Rasten geht kaum, nur einige Sekunden des Stillstandes reichen und es flirren die ersten Mücken vors Gesicht. Auch die dicken Brummer versammeln sich ungeachtet wie schnell ich laufe um das Geschehen; schwere Knochen, tausend Mückenstiche, extremer Durst, gnadenlose Riesenfliegen in Terrorstimmung schwirren und schwirren…….
Kein Auto hält und nimmt mich mit…. der Arm ist schon so schwer, mehr noch die Beine.
Echt trostlos mein russisches Abenteuer zur Zeit.

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Die wenigen Freiflächen lockern etwas die trostlose Waldstraße auf. Stelle aber mit traurigkeit fest, dass im tramperfreundlichen Russland nichts läuft im Notfall.

Der Kopf ist abgeschaltet, keine Gedanken über Dehydrierung, oder sonstige Kollapse sind erlaubt. Einfach nur weitergehen, weitergehen, weitergehen.

Novgorod?

Noch 11 Kilometer….

Noch fünf.

Alles tut weh, aber ein Licht strahlt auf einmal im Herzen. Ein Licht des Stolzes, der Erlösung. Ich bin tatsächlich 45 Kilometer gegangen, fast ohne Wasser, mit einer Handvoll Kalorien am Anfang.
Die große Stadt belohnt mich bald.

Der Fluch des Russischen Sommers…

14.06.2016
Welch schöne Zeit, erst die ersten, goldenen Kilometer gestern auf der P47, der fast 90 km langen Landstraße von Luga nach Novgorod, echt traumhaft.
Doch heute; Sonnenwetter aber perfekt für all die Plagegeister des Waldes, der jetzt zig Kilometer folgen wird.

Ich überschreite zur neuen Region, in Russland „Oblast“ genannt, die Bundesländer des Riesenreiches.
Neue Oblast, neue Viecher: Riesige Fliegen, erstmal harmlos aber fett und laut brummend schwirren sie total schnell um mich umher, pausenlos, stundenlang….

Weitere Stunden des nun stinklangweiligen Weges folgen; nur noch Wald, Sumpfwald und mittendurch diese Straße. Auch hier im nun totalen Nirgendwo krachen unangenehm, unrealistisch viele LKWs durch die Stille.
Erst ein paar namenlose Kleindörfer, dann nur noch niederer, dichter Buschwald im braunen Sumpfwasser.

Wieder eine Hölle: Monsterfliegen schwärmen mittlerweile in solch großer Zahl um mich & Wanderwagen, wie ich es niemals erlebt hatte.
Sicherlich sind es an die Hundert, laut brummeln und neuerdings auch stechend (saugen den Schweiß an) – ticken permanent ins Gesicht, ja immer ins Gesicht. Warum nur?
Es gibt kein, aber auch garkein Ausweg; mit dem Handtuch schlage ich wild umher, versuche die überall haftenden Fliegen zu klatschen, erwische nur wenige, erkenne wie sich Wahnsinn nährt …. muss Ruhe bewahren, muss Ruhe bewahren….
ES GIBT KEIN ENTKOMMEN!

Weitergehen, weitergehen. Wieder ein dröhnender Lastwagen der kräftig Fahrtwind (und Staub) entgegen wirbelt, doch die großen Fliegen kümmert das nichts, die Verzweifelung wird narkotisch, wird heiß.
Manchmal ebbt der Wirbelsturm ab, vor allem wenn Wolken Schatten machen, besonders hysterisch sind sie in der grellen Sonnenhitze. Ich weiß einfach nichts mehr……………….

Inmitten eines Wirbelsturms von hunderten, Bienengroßen Fliegen fliehe ich nach gut 40 Kilometern auf ein weites Wiesenfeld, in der Hoffnung dort im Zelt endlich frei zu sein.
Aber sie folgen mir aus dem Wald, schwitze extrem im Stress, besinne aber jeden Kurzschluss, der mich hysterisch davonrennen lassen will…. wie sehr spüre ich diese Kraft des Durchdrehens.

Jeder Handgriff sitzt, das Zelt steht bald zuverlässig als meine „Burg Wanderleben“ und sitze nun hinter dem Netz.
Gedanken rasen durch die heiße Rübe, der Körper glüht förmlich im Stress unzähliger Mückenstiche, die wärend des Zeltaufbaus unvermeintlich geschehen; nun kommt noch eine neue Moskito Sorte dazu, eine übergroße, hellbraune Mücke die neuerdings sogar durch die starke Fjällräven Hose stechen kann; ein einziger Stich erzeugt viele stark juckende Blasen…. gleich mehrere kassiere ich hier und jetzt.
Im Zelt kuriere ich das Dilemma mit Salbe, wasche so gut es geht die stark verschwitzte Haut mit Mineralwasser und dem Lappen, öffne nur kurz und schnell einen kleinen Spalt den Reißverschluss um den Lappen neu zu wässern …
Auch das noch, jetzt drückt es plötzlich ganz empfindlich; ein Klo-Gang bitteschön jetzt!
Ich dreh komplett durch…. draußen tobt albtraumhaft ein Gemisch von Moskitos und Riesenfliegen ums Zelt, das allein ihr Sirren mich schon fertig für die Klapsmühle macht.

Ich MUSS also nochmal da raus.
Es ist warm, aber alle Klamotten an, auch die Jacke. Mütze rüber, Schuhe an und los…. ich renne hinaus ins Grasland, stolpere durch torfige Wasserlöcher und hocke mich schnell hin, keine Chance, wie Geisterwesen tauchen sofort aus dem Gras unter mir, neben mir, ja überall Mücken auf.
So kann ich das nicht…. jammere ich…
Aber was ist gnadenloser als die Natur?

Alles abschalten also, nichts mehr denken. Einfach funktionieren.
Der Darm leert sich, das Gehirn abgestellt (so gut es geht) die vielen Stiche – vor allem da wo momentan kein Schutz möglich ist, unbedingt ignorieren.

Fertig, alle weiteren Reinigungen im Zelt…in aller Ruhe altbewährter Outdoor Technik.

Die Handgriffe sitzen, Zeit dafür ist genug, doch der Hintern glüht jetzt … kann garnicht so viel trinken wie Blut verloren sein muss…
Trinken…. geht auch nicht so üppig; die letzten 40 km gab es keinen Laden weit und breit. Nur eine halbe Flasche Wasser bleiben noch für die übrigen 45 km morgen….sollte ich die überhaupt schaffen bis zur Großstadt Novgorod.
Schlecht geplant, schlecht gelaufen überhaupt die ganze Nummer jetzt.
Ich bin fertig, esse Brot mit etwas Wurst von gestern, überlege was ist wenn es nun so weiter geht.
Kann man durch dieses Land, durch diese Natur überhaupt wandern?
Draußen warten sie schon… Billionen Mücken die nahezu jedes Leben im Freien UNMÖGLICH machen ….

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Heute mal keine Panoramafotos. Lediglich des Netzfenster am Zelt zeige ich mal, was mich vor dem kompletten Moskito-Wahnsinn da Draußen bewahrt.

Nasse Schuhe trockenlaufen.

12.06.2016

Kilometer sind garnichts in Russland, deshalb nicht denken, – machen ist angesagt; laufen, laufen, laufen bis es schon verwundert das die Quanten das noch mitmachen.
Die sind wirklich wie gemacht für’s Weitwandern, habe überhaupt keine Probleme mit Blasen oder sonstigen Gehschmerz, zumindest noch nicht.

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Unterwegs auf der Horrorstraße, 30 km vor Luga. Schlimm: Scharfkantiger Bruchstein auf dem ansich breiten Randstreifen, machen das Wandern zusätzlich schwer. Ganz zu schweigen vom extrem lauten (Schwer)Verkehr.

Zum Glück regnet es nicht so ganz schlimm heute, ich kann somit gut in die Kilometer kommen.

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Ein Glück: Im Kaff Mshinskaya erkenne ich einen Laden in dieser altsovjetischen Bruchbude. Sogar noch mit dem Abakus wurde drinnen der Rubel abgerechnet. Abenteuerlich ...
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Wieder eine weite Wiesenlandschaft um einigermaßen den Moskitos zu entkommen, wird am diesen Abend mein Hotel-Wanderleben.

13.06.2016

Noch muss diese scheußliche Straße genommen werden, bis zur Stadt Luga. Ich flipp aus…. was fürein Wahnsinn…. wohin wollen die alle? Hier und dort gibts kaum Städte, also woher diese Autoflut?

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Der Luga-Fluss, mit typisch russischer Landschaft.

Luga: (36.000 Einwohner)
Jetzt wirds provinziell; diese mittelgroße Stadt verheißt endlich wieder Anschluss am Rest der Welt, finde aber nur nach langer Streiftour endlich ein Lokal mit WiFi, und erkenne, dass St. Petersburg mittlerweile tatsächlich weit weg ist; mit Englisch komme ich hier nun garnicht mehr weiter, spreche einige Leute an die eben leider auch sehr reserviert einfach weitergehen, eine Frau tat sogar so als belästige ich sie…
Naja, nicht zu vergessen das eventuell ein „Bomsch“ sein Unwesen treibt, unterwegs mit Bollerwagen auf Müllsuche …. glaube ich schon in den Denkblasen der Leute zu lesen …

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Hier, weit in der Provinz wirds nun doch etwas schrulliger. In solchen Plattenbauten wohnen die meisten Menschen in Luga.
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Auch die Kirche von Luga hat schon bessere Tage gesehen.

Hier bleibe ich erstmal, endlich wieder Cappuccino und Plov, das russische Reisgericht, schön fettig, günstig und sättigend, abseits von alltäglichen, ungesunden Pflichtgenuss, lediglich vorhandener Wurstwaren aus den dürftigen Ladentheken.

Gallerie… Bilder aus Luga und dem lieben “ Кафе Лужаночка  “

So, und nun wechselt auch der Weg; ab nach Osten auf eine ruhige, ja verlassene Landstraße nach Novgorod, dem nächsten Zwischenziel.

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Auf nach Novgorod. Die Beschilderung in Russand ist wirklich gut, und große Orte stehen auch in vertrauten Schriftzügen dort.

Och wie schön, jetzt marschiere ich über einen so viel ruhigeren Asphalt, durch eine herrliche Landschaft, so flach, so grün, so Russisch….  noch dröhnt der Wahnsinn von LKWs im Schädel nach all den Kilometern auf der M20 von Petersburg, laufe jetzt noch 10 km in den Abend hinein.

Russische Landschaften der flachen Novgoroder Oblast; besonders oft wuchert hier diese giftige Herkulesstaude, oft Kilometerweit.

Großangriff der Blutsauger, aber schnell schaffe ich das Zelt im hohen Gras und liege flach wie eine Flunder im Himmelreich…. Heineken Bier, Karoffelsalat und Tomaten, anschließend 10 Std Wolke sieben.

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Wer sieht mein Zelt? Versteckt an weiter Wiese ...

Raus ins weite Russland.

10.06.2016 (Freitag)

Da hinten ist sie, die weiteste Weite der Welt… ich liebe es so zu poesieren, muss ich doch die katastrophale Wetterlage schönreden.

Verloren wirkt dieser Kontinent, den ich jetzt im Begriff zu verlassen noch um so lieber den Rücken zeige, seine gegenwärtig verlorene Klimalage nur noch zum auswandern; Regen ohne Ende, lediglich der Mai war echt genial, (damals in Estland) wärend die Vorhersagen für den ersehnten Sommermonat Juni, bis Ultimo Grau in Grau aufzeigen.
Für Leningradskaya als auch Recklinghausen, Daheim…. sowie bei Jakobswegpilger Georg in Frankreich, hauptsache Europa, hauptsache REGEN…… keine Ahnung was los ist, wo sind die langen, heißen Sommer geblieben?

So, genug aufgeregt, zumindest macht hier das ätzende Wetter kleine Pausen und erreiche die Stadt Gatchina, 20 km außerhalb Petersburg, kurze Pause dort,  suche vergeblich diesen kleinen Zarenpalast, welchen diese 94.000 Einwohnerstadt jetzt zum 250 jährigen Bestehen feiert, und überhaupt ihrer Existenz verdankt.

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Gatchina (94.000 Einwohner) erstmal ohne Paläste, sondern neuen Hochhäusern und einem Mc Donalds zum Ortseingang. Ausnahmsweise auch mal ganz kurz Sonne zwischen all den Gewitterwolken.
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Keiner will mich fotografieren: Offensichtlich sieht der Wanderwagen so komisch, schäbig aus, dass mich hier in der Provinz fast jeder für einen "Bomsch" hält, einem Penner .... also eben selbst gemacht das Bild.

Der „Bomsch“ zieht weiter.
Komische Blicke sind mir sicher, weil irgendwie ein Landstreicher der aber dennoch zu gepflegt ausschaut,dem Provinzrussen einige Fragen aufwirft.
Ich kämpfe mich über die Kilometer, staune dass es letztlich weniger hart auf satte 42 km geht, als es ans selbst gesetzte Limit von 19:00 Uhr kommt.
Noch gut in Schuss, ohne schlimme Schwächeattacken, schiebe ich den Wanderwagen einfach abseits der schrecklichen Straße durchs hohe Gras, genieße immer mehr die Ruhe von all den tausenden LKWs, Autos …. boah, was für eine laute, extreme Hammerstraße, aber erstmal der einzige, konstante Weg ins Land hinein, Richtung Moskau.

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Ein Torfmoor, 5 Kilometer vor dem Dorf Vyra, soll diesen Abend mein Schlafzimmer sein.
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Und wieder reichlich Belohnung für all die Kilometer...

12.06.2016
So schön der Abend am Zelt auch war, die permanenten Grauwolken am Horizont machen die Nacht zur Regenhölle, morgens ziehe ich alle Register um möglichst trocken das Lager in den Wanderwagen zu zaubern.
Zaubern ist vielleicht nicht abwägig; jeder Handgriff muss sitzen, alles erstmal im Zelt einpacken, zusammenlegen und schrittweise in den Wagen schaffen, immer zak, zak, damit der permanente, auf keinen Fall endende Niederschlag zuviel erwischt und alles nass macht. Das wäre eine Katastrophe.

Eine volle Stunde später, nach der Entkernung des Zeltes von innen, stehe ich in kompletter Regenmontur da, atme tief durch und ab durchs hohe, nasse Gras ….
Noch halten die GoreTex Schuhe von Meindl, falle aber beim überqueren des Grabens zwischen Feld und Straße um, weil der Wagen war doch zu schwer beim wuchten darüber.
Die ganze Hose, herrlich trocken zuvor, ist nun voller Schlamm, schnell zieht die Nasskälte durch den hochwertigen Stoff… und ertrage es ..

Gottseidank nur 5 km…
Ich bin aufgeregt: Eine Reporterin aus Petersburg will mich treffen.
Dank Handy + russischer Telefonummer verabredete ich mich schon gestern mit ihr. Vyra, ein Punkt auf meiner Landkarte wäre der Ort zur Zeit.
Dort finde ich gleich dieses Holzhaus, flüchte heilfroh hinein und bestelle wild alles was warm und lecker ist….

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In Vyra, (1000 Einwohner?) rette ich mich in dieses Lokal.

Insgesamt schlemmere ich ein Frühstück, eine Cola, eine Soljanka (deftige Suppe mit Wurst) sowie Frikadellen mit Kartoffeln für nur fünf Euro.
Lisa (27) kommt,  dabei Artjom (21) (bestimmt falsch geschrieben wieder den Namen..) den Fotografen, beide aus der Metropole Petersburg, wollen mehr über den „Deutsch Russischen Freundschaftsweg“ wissen.
Vermittelt vom alten Journalisten Hasen Alexander, bei dem ich ja cochsurfen war, löchern mich die Jung-Journalisten über das Wanderleben.

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Lisa fragt nach meinen Russischkenntnissen. Peinlich: Ich kann immernoch nicht einmal bis 10 zählen....

Lisa fragt:

„Warum ausgerechnet durch Russland?“

  • Weil ich das größte Land der Welt und diese große Kultur als ganz besondere Herrausforderung sehe.

„Was kannst Du denn so auf Russisch?“

  • Hmm, „Pivo“ …. fällt mir auf anhieb ein.

„Warum ausgerechnet zu Fuß?“

  • Ich liebe das langsame, viel Zeit in wenig Geschwindigkeit zu verbringen.

„Was sagt Deine Familie dazu, dass Du so lang fort bist?“

  • Mama ist meine halbe Welt, und das weiß sie. Aber nicht nur deshalb ist sie für das Wanderleben, auch eben weil es mein Lebensglück bedeutet, und das ist ihr oberstes Gebot.
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Noch viele Fragen und gespannt was in den Zeitungen der Oblast so dabei rauskommt...

Mehr als drei Stunden warte ich im Holzhaus, der Regen hat endlich eine längere Pause eingelegt, ich sehe zu weiterzukommen; 27 km sind heute auf der Karte angezeigt, die ich schaffen muss.
Weit reicht der Frieden nicht… böse Wolken blasen zuerst kalt-feuchten Wind entgegen, dann geht einfach nur die Hölle los ….

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Erst 10 km einigermaßen geschafft, und dann steht mir die Hölle bevor.....

Blitze schlagen gleich nebenan im Wald ein, ganze Wellen von Starkregengüssen lassen mich nur einige Meter weit sehen….. es hört auch nicht mehr auf, die Straße gleicht einem Fluss, ……schlimmer noch, die LKWs rasen durch die Pfützen, und alles kriege ich mit…. doch dank der perfekten Ausrüstung bleibt (fast) alles trocken….

Nach weiteren 10 km gebe ich dann doch auf, weil lediglich – und das reicht, die Schuhe komplett durch sind.
Alles ist gut, alles trocken, der Ponscho leistet perfekte Arbeit, aber eben die Füße, sowie Beine sind fertig. Schwappend in den Schuhen biege ich irgendwann auf ein Acker ab, schmeiße das Vorzelt auf, hänge das (trockene) Innenzelt ein und schleudere alles hinein was nötig ist, versiegele den Wanderwagen draußen schnell mit der Gummiplane, ziehe den triefenden Ponscho aus, klemme ihn zwischen die Zeltwende, sowie die klatschnassen Schuhe & Socken.
Halbnackt, aber alles trocken baue ich mich und das Schlafgemach in aller, aller Ruhe auf.
Es prasselt, ich glaube immer hysterischer…. hält das so ein Zelt überhaupt aus so lang?
Hab ja schon viel erlebt, aber sowas nur einmal damals in Nordspanien; das Zelt kollabierte damals und die Matratze schwomm nur noch in der Pampe.

Wilde, nasseTage im Urlaubsparadies Russland…. (seufz)

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Gefangen im (gemütlichen) Zelt; 1,5 Liter Bier und reichlich zu Essen sind hoffentlich ausreichend um den Dauer-Regenguss zu überstehen. Hier habe ich auch alle Zeit um jetzt diesen Beitrag zu schreiben. Stunde um Stunde ...

Von St. Petersburg nach Leningrad..

Oh je, jetzt wird’s heftig: Starkregenfronten aus Westen überziehen die Stadt. Heute muss ich aber die 35 km bis vor Gatchina schaffen, meine 1850 km lange Etappe nach Kazan ist recht streng eingeteilt auf der Landkarte, nur wenig Spielraum noch hinten…. auch ein Teil des Abenteuers.

Nach einigen Kilometern, und einer Flucht ins Kaffeehaus wärend einer besonders starken Wetterattacke, staune ich nun über einen aprupten Szenenwechsel: Zurückversetzt in die 40er Jahre, in diese Lenin/Stalinstadt mit all den eiskalten Bauten „stalinschen Monumentalismus“, erlebe ich noch ein Petersburger Highlight.

Die grauen Wolken weichen nahezu erfürchtig, damit die kolossalen Fassaden im Schein der Sonne nochmal ganz ganz monumental ihr steingewordenes Zeugnis jener größten, gescheiterten, menschlichen Unternehmung, präsentieren können.

Als sei nichts verändert, wuchten die Wände des Hauses der Sovjets, fast 100 Meter hoch, stolz, selbstverständlich. Mc Donalds und wildestem Konsumrausch in der Nachbarschaft zum Trotz. Welch Kontraste.

Leningrad als Monument in Beton, ein Monument für die Ewigkeit.

Noch ein Petersburger Abend.

… Bei Wladimir, dem Straßenmusikanten, im Sovjetskaya Viertel, fast in der Mitte gelegen nächtige ich heute noch in seiner gemütlichen, kleinen Wohnung auf der Matratze im Wohnzimmer.

Der heftige Duerregen zieht ab, tolles Abendlicht fällt auf die alten, hohen Wohnhäuser des Viertels, ich rolle den Wanderwagen über hohe Bordsteine durch die hochurbane, etwas abgewohnte Betonwelt älterer Bauart, durch eine Passage, die provisorisch mit Holzbalken abgestützt vor dem Einsturz bewahrt, mich in eine dieser typischen Hinterhofwelten bringt, in der so viele Petersburger wohnen.

Der freundliche Wladimir hat Zeit heute, ich konnte kommen wann ich wollte, stemme den Wanderwagen in den dritten Stock durch wieder einen Flur, der seit vielen, vielen Jahrzehnten nicht einen Handstreich Renovierung sah, durch diese rustikale Holztür plötzlich ins kleine Himmelreich.
Hier hab ich mein ganz eigenes Museum heute; uralte Holzmöbel, Musikinstumente und Puppen – fernab des Eremitagen Hexenkessels.
Der Wladimir ist ja auch einer wie ich, zieht mindestens das halbe Jahr über den Kontinent, meist in Deutschland, der Schweiz und im warmen Italien, spielt dort Musik, lässt seine Puppen tanzen.

Auch wenns heut alles viel schwerer geworden ist, weil überall die Rumänen gekommen sind, zwar immer die selben Lieder dudeln, aber dem alten Petersburger Original heftig Konkurrenz machen.

Jetzt aber ist er drinn in der Nummer, wohl für immer; „mein alter Beruf ist tot“ sagt der gelernte Kinotechniker im guten Deutsch.
Er spricht mehrere Sprachen, seine Tochter lebt zusammen mit seiner Freundin woanders, die Freundin ist junger als die eigene Tochter des 53 jährigen Lebenskünstlers, momentn gibts Zoff, und da tut der Rotwein den ich mitgebracht hat mal ganz gut.
Draußen prasselt wieder der Regen. Es ist ja so gemütlich jetzt an diesem letzten Petersburger Abend.

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Und wieder mein obligatorisches Prost mit Rotwein, diesmal bei Wladimir mitten in Petersburg.
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Mmhhhh, gut futtern bei politischer Diskussion. So soll es sein.

Viel Geschichte um mich; so hat das Wurzelgemüse an der Wand schon vor über 50 Jahren mit seinem Marionetten Dasein das Puplikum erfreut, wacht heute mal über mein Schlafgemach, eine Matratze auf dem knarrenden Holzboden.

Uuufff, …. aufstehen… immernoch Regen Draußen…

Heute gehts früh weiter, Wladimir nach Cherepovets, 520 km fern zu einem Auftritt, ich 40 km nach Süden, raus aus der Stadt…. der Rotwein erschwert noch ganz schön die Knochen …

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Uuaaaah, schon vorbei die kurze Nacht? ... Das Wanderleben ruft, die Straße ruft.... es geht weiter.

Implosion der Eremitage.

Und da laufe ich 2698 km bis vor die Tore dieser ersten Attraktion der Stadt; die gewaltige Eremitage, einst ein Palast der Zaren um sich „Eremiten“gemäß vom politischen Alltag zurück zu ziehen, sich Kunst und Muse hinzugeben.

Das mit dem Rückzug hat sich heute sehr geändert, wollte ich doch den letzten Tag hier nutzen um auch mal die Hallen des wohl größten Museums der Welt zu erleben, einfach nur durchgehen, Größe, Weite, Macht, kombiniert mit Feingeist menschlicher Hochkultur, Architektur.

Alles gewichen den wohl 80.000 Touristen die sich momentan in der Metropole aufhalten (davon offensichtlich 50% Chinesen) die alle gleichzeitig dem Sturzregen im Dauermodus, hier zu entkommen versuchen.

Abwarten in der Schlange bei glücklicherweise schwächelnden Niederschlag. Es fängt wieder an, die Tropfen prasseln schwer auf die gereizte Menge, Regenschirme so weit das Auge reicht, ich habe keinen, harre aus. Kein Unterstand.

Die Mengen schieben sich in einen unscheinbaren Eingang, die Geduld als wohl einziges was Eremitenniveau hier und jetzt bietet, soll sich lohnen.
Mitnichten; drinnen kocht die humane Masse wild in weiteren Schlangen vor den Kassen, es ist sehr laut und es wundert das eine solch dünne Luft überhaupt dermaßen den touristischen Schall zu transportieren vermag. Ich kann kaum atmen, die beklemmten Gedanken drehen sich um Flucht, ich wechsel die Menschenmenge zur anderen Kasse, wirres Durcheinander, Chinesische Reisegruppen stoßen plötzlich prioritär vom Ordnungspersonal kanalisiert, vorbei.
Ein Quergang hinter der Kassenbarierre verrät sich im lauten, ununterbrochenen Strom tratschender Massen….

Das wars, verschwinde flux zurück durch die nervöse Drehtür an die Luft….

Ich denke, dass ich nie mehr von diesen ganz großen Sehenswürdigkeiten berichten werde im Wanderleben. Ich muss endlich akzeptieren das kein Platz mehr ist auf diese Welt für jemanden wie mich an solchen Orten.
Wie soll ich auch sonst jemals diesen Feingeist, diese ohnehin anspruchsvolle Verortung menschlicher Hochkultur aufgreifen, reflektieren, wenn das alles nur noch untergeht im nahezu Tourist-industriellem Massenbetrieb.
Anderseits bleibe ich bei meinem Lob an die Offenheit, die Zugänglichkeit für Alle, allerdings mit der Konsequenz mich selbst dort zu verhindern.

Naja, versuchen kann mann es ja, gönne den Chinesen ihre Fotosafaris durch all die Hallen, bin weg, umgehe die großen Pfützen zwischen dutzenden, riesigen Reisebussen hinaus zum langen Nevsky Prospekt, 2 km zurück zum Shoppingcenter was wesentlich entspannter mit seinen wenigen Tausend Menschen rüberkommt.

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Der Innenhof der Eremitage, mal kurz fast menschenleer.... ein seltener Moment.

Teuer wäre das Mega-Museum allerdings nicht geworden: 200 Rubel (2,80€) im schnell-Rundgang, weitere 8-10 € in all seinen Sektionen als sichere Tagesaktion.

Sei’s drumm, so nutze ich das Geld um meinem neuen Gastgeber Vladimir einen schönen Wein zu kredenzen wenn wir heut Abend zusammenkommen.

Lecker Essen gehnt hier bekanntlich auch recht günstig. Metropolen-unübliche 3,50€ vom Kantinen Buffet. Eine typisch russische Art sich hier zu sättigen.

Die Füße qualmen weiter …

… und ich dachte das die große Stadt erstmal Pause bedeutet. Von wegen, jetzt sitze ich (ja, ich sitze!) In einer Shoppingmall mitten im Zentrum der Großmetropole, und weiß garnicht zu sagen, was ich alles nicht gesehen habe hier; Rom, New York, Paris, – St. Petersburg; passt gut dazu im Club der Super-Metropolen touristischer Überforderung, Müdigkeit, Reizüberflutung.
Schon drei Tage hier, und immernoch nicht wirklich den Überblick von all der Substanz, ob historisch oder gegenwärtig; diese Stadt ist einfach umwerfend.

1350 Quadratkilometer groß, 5,250.000 Einwohner schwer, größer also als Berlin ist Russlands führende Kulturmetropole, als nördlicheste Millionenstadt (zusammen mit Stockholm/Schweden) momentan die „weißen Nächte“ feiernd, da um Mitternacht noch fernes Tageslicht am Himmel gleißt.

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Angekommen, aber noch 22 km bis zum Stadtzentrum...

Alexander, ein echter Petersburger, nimmt mich auf, wir telefonieren schon vorher und er wollte mich unbedingt abholen vom Stadtrand. Warum sollte ich den auch durch all die langweiligen Vororte spazieren, dachte er.
Aber ich lasse mir die Zeit, bleibe bei unserem Plan morgen zu treffen, schlage das Zelt im feuchten Dickicht einer urbanem Brache auf, einer der wilden Flächen mit Buschland zwischen der endlosen Einzelhausverbauung im Vor-St.Petersburg.
Regen prasselt nun wild aufs Zelt, Mücken greifen wieder wild an, doch diese eine Nacht will ich noch hier draußen verbringen, nehme mir die Zeit und wandere morgen in die gewaltige Stadt, will es mit ihrer Größe aufnehmen ….

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St. Petersburg mal ganz anders: Im Hotel Wanderleben, gut geschützt vor Regenfall, Ameisen und Mücken, versteckt im städtischen Busch.

Unglaublich, wie in Berlin… da läuft man echt stundenlang durch städtisches Einerlei, es nimmt kein Ende. Alexander wird allerdings unruhig, ruft schon zum dritten mal an und ich gib auf, lasse mich dann nun abholen….
Einige Kilometer fahren wir zu seiner Wohnung, sieben Kilometer nördlich der Innenstadt, die schon selbst in Ausdehnung einer Großstadt das Fürchten lehrt; nur drei Tage Zeit für den Giganten?

Jaja, erzähle ich dem Journalisten Alexander, dem ich schon vor Längerem auf Couchsurfing.com anschrieb, hier eben nur im „Vorbeigang“ zu versuchen die Stadt zu begreifen.
Also mal sehen was kommt, mal sehen wie kompetent mein Anspruch auf den Ort dem seinen gerecht wird ….

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Wetterumschwung: Nach Wochen reinen Sonnenscheins, will der Juni nun garnicht mitspielen. Noch weit vom Zentrum entfernt wirkt St. Petersburg schon sehr großstädtisch.

Die Peterstadt: Gastfreundlich, irgendwie noch ursprünglich, zumindest weniger super-touristisch als andere Städte dieser Liga, überrascht mich die Stadt mit vielen Einladungen zum Übernachten, sowie Interesse an’s Wanderleben, bekomme täglich Anfragen & Einladungen bei Couchsurfing.com …. jaaa, das tut echt gut.
…… Anderseits aber kann ich nicht allen zusagen, antworte „sorry, but i,m full“ – womit auch immer, Sozialleben, Eindrücke, Bier und Rotwein mit Alex.
Diesem widme ich natürlich gern die knappe Zeit, erzähle ihm all meine Pläne, diskutiere mit einem Einheimischen den „Camino Russa“,den Russischen Weg quer durchs Riesenland, finde somit einen Kenner seiner Heimat.

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Mit Gastgeber Alex auf der Datscha, russisch gut, lecker und sehr informativ ein wunderbarer Abend, 52 km außerhalb der Metropole.

Wieder darf ich den vollen Umfang einer Russischen Seele erleben, fahre mit Alex zum Abend auf die Datscha, wo schon seine Frau wartet (und über Tage dort wohnt).
Raus, raus aus der Stadt in diese Siedlung aus Holzhäuser, jedes ein wahres Unikat, ob als abenteuerlich zusammengezimmerte Marke Eigenbau, oder als Fertighaus, stehen die „Datschen“ recht dicht beieinander, jede mit ihren Garten und nicht selten eine „Banja“ drinn, die obligatorische, hölzerne Sauna.
Hatten wir nicht mehr geschafft um 23 Uhr, die Weinseligkeit trieb mich ins Gästezimmer, ein voller Tag musste erstmal verpackt werden.

Arme Füße, von wegen Außzeit. Jetzt erst richtig: Die Stadt so weitläufig sie ist, um so unmöglicher die körperliche Erholung. Oder doch?
Warum sollich eigentlich jetzt einen auf China-Touri machen, von einer Nummer zur nächsten hetzen?
Mann erwischt sich beim Gedanken des Sightseeing-Größenwahns, und erwischt sich anderseits einer sträflichen Gelassenheit einfach mal garnichts zu tun.
Also mal wieder der goldene Weg der Mitte; sitze stundenlang in Nachbarschaft von Erimitage, oder Peter-Paul Kathedrale und tue nichts, surfe im Internet bei Cappuccino (für 1,80€) und scype mit Mama und Georg, der ebenfalls auf dem Jakobsweg fernwandert (dazu später mehr)

Erkläre meinem Gastgeber, zu seinem Entsetzen, am Abend, lediglich hier und da mal gewesen zu sein, meistens aber auf Parkbänke, Bordsteine und weichen Ledersofas in High Tech Shopping Malls gesessen zu haben.
Die Beine & Füße können einfach nicht mehr.

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Da bin ich nun, vor der einzigen Kirche in alter, traditionell russischer Bauart, da es lange Zeit verboten war die bewährten Zwiebeltürme in der Stadt zu errichten. Heute rühmt sich die Auferstehungs Kirche im Zentrum der Stadt, das führende Postkartenmotiv zu sein, als offensichtliche Nachempfindung des Moskauer Kremls.
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Auch wenn die Latschen weh tun, der Weg zur Peter & Paulkathedrale ist ein Muss, weil hier als Burgfestung mit Kirche einst Peter der Große, vor genau 313 Jahren die Keimzelle der Stadt schaffte.
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So hatte alles nach 1703 angefangen: Eine Hafenfestung mit dem Schutzheiligen Apostel Petrus gewidmete Kirche, dem die Stadt dem Namen verdankt; sozusagen den Doppelpeter; Der heilige Petrus im Himmel, gehuldigt von Zar Peter dem Großen. Gleich zwei Fliegen mit einer Klappe also..

Jetzt an diesem Dienstag, schlurfe ich wieder durch die weiten der Boulevards, vor allem längs des prächtigen Nevsky Prospekt, der wohl berühmtesten Meile hier. Versuche die Stadt weiterhin zu begreifen, überlege hin und her ob ich Freund Georg mit einer Tour durch die weltberühmte Erimitage danke, weil er mir einen „Kulturetat“ spendete, eben um genau sowas auch bezahlen zu können.
Den weiß ich lieber in Essen und Trinken zu investieren, wenn ich nur an die Weiten denke die mich wieder um die körperliche Erholung bringen würde, ferner an die Hülle und Fülle (im wahrsten Wortsinn) des offenbar größten Museums der Welt (wie mir Alex zu berichten wusste) … ein ganzer Tag muss schon sein dafür. Oder doch wie Georg sagte, – einfach nur durchgehen, mitschwimmen, erleben wo Du bist – ….. schwere, schwere Zeiten im Wanderleben ….

Bilder, Farben, Fassaden, Menschen, Russland, St. Petersburg …. manchmal sagen Bilder mehr als 10.000 Worte:

Erst über 300 Jahre alt, einst als Gegengewicht zum damals ungeliebten Moskau von der frischen Romanov-Dynastie gegründet, schoss St. Petersburg sprichwörtlich übers Ziel hinaus, wuchs über die in einsamen Sumpfland gelegene Küstenfestung als Stadt weiter, die erstmal als neuer Hafen einen Zugang zum Meer verschaffen sollte.
Russland war dieserzeit im völligen Umbau begriffen, und sein neuer Zar, Peter der Große, lernte heimlich in England und Holland die Kunst des Schiffbaus, ließ sich begeistern von den Mächten des Westens mit all ihren neuen Kolonien, dank der Seefahrt.
Das alte Moskau musste erleben wie eine völlig neue Hauptstadt erblühte, – altrussische Zwiebeltürme waren verpönt, west-klassizistische sowie Barocke Architektur prägt bis heute noch einen der wohl weltgrößen, späthistorischen Stadtkerne, dem selbst der Größenwahn kommunistischer Beton-Gigantonomie der ursprünglichen Identität nicht schadet.

Also: Nicht Zar-Petersburg, sonder Sankt Petersburg, hatte ich vorher auch nicht gewusst, soll eben an den Apostel Petrus erinnern.

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Der Blick über den Neva Fluss, der vom größten See Europas (Ladoga See) wie ein Kanal zur Ostsee entwässert. Einst Sumpfland, heute die viertgrößte Stadt Europas.

Und hätte Zar Peter Anfangs noch selbst nicht gedacht, die Hafenfestung einst zur solcher Größe zu verhelfen, konnten auch viel später die Nazis gottseidank nicht ihre Pläne zur vollvernichtung „Leningrads“ durchsetzen: 500.000 Menschen starben bei der Besetzung der Stadt 1944. Weitere drei Millionen sollten „laut Plan“ folgen.
Die Wehrmacht scheiterte, und Leningrad wurde 1991 (nach 92 Jahren)  wieder St. Petersburg, ist heute größer als je zuvor, wenn auch schon seit fast hundert Jahren nicht mehr Haupstadt, mit 5,2 Mio Menschen zweitgrößte Stadt Russlands.

Und es geht noch weiter: Am Rande der Metropole wachsen sie, Hochhäuser dicht an dicht, Wohnraum für offenbar 200.000 neue Bewohner, und mehr.
Wärend die großflächig denkmalgeschützte Innenstadt frei von dominanten Wolkenkratzern ist, darf weiter Draußen eifrig hochgestapelt werden; mit 462 Metern wächst momentan der spitze Glasturm von GazProm in den Himmel, weit Abseits vom Postkartenidyll, Europas höchster Wolkenkratzer.

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Wieder wächst die Stadt; St Petersburg kratzt in 15 Jahren an die sechs Millionen.

Und das ist sie, die saubere, sichere, ja so gut funktionierende Stadt. Kein Bettler, kein Besoffener, kein Schnorrer hat mich je auf all den Streifzügen angebettelt hier.
Als alter Berlinkenner ein krasser Vergleich: In Berlin ist es deutlich schlimmer, dort sah ich noch letzten Winter ständig irgendwelche Bettler. Wurde oft angeschnorrt dort.
Nicht aber hier im ach so gefährlichen Russland….
Gibt zu denken; ob es an den vielen Uniformierten liegt, die permanent überall zu sehen sind, bedrohlich gucken und niemals lächeln?
Noch einen Tag bleibe ich hier bevor es wieder weiter geht, treffe morgen Vladimir, den Straßenmusikanten der mir für eine Nacht Obdach gewährt.


Pilger Georg gehts wieder deutlich besser nach seinen Eskapaden mit den Füßen. Typisch Camino, typisch Jakobsweg, es tut eben überall weh, mehr und mehr…. doch irgendwann läuft es sich wieder weiter…. und ist überstanden.
Hinter Langres, mittlerweile tief im französischen Nirgendwo, läuft er dem Westen entgegen…. bei Wind und Wetter.

141 Kilometer nach St. Petersburg…

… in fünf Tagen. Ist gut zu schaffen, da überraschenderweise der „Highway“ – wie ihn die Leute hier nennen, echt gut ausgebaut ist, sehr breit diese Straße, natürlich total voller Schwerlast, oft noch in alter, russischer Bauart krachend an mir vorbei scheppernd, genieße ich aber den Krach mal, weil bei der Hitze (30 Grad!) die Brummis ordentlich (Fahrt)Wind machen, pusten zudem jeden Moskito hinweg, der mir zu folgen versucht.

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141 Kilometer entlang des "Highway" nach St. Petersburg, und ich habe Platz genug, der Seitenstreifen hier ist großzügiger als auf fast jeder Straße Westeuropas.

Ich begreife eigentlich immernoch nicht wo ich bin; Russland, dieser Kontinent, ja diese Welt liegt nun vor mir. Welch Ausmaße das sind, will ich eigentlich garnicht erzählen, sonst galub ich schon selbst nicht daran, dieses Land mit den bloßen Füßen mal zu bezwingen.

Fast so groß wie der Kontinente Europa und Australien zusammen, oder 48 mal Deutschland, …. 380 mal Estland, 6840 mal Luxemburg …. ist diese Landmasse, unterteilt in 84 Einheiten, meist „Oblaste“ genannt, oder „Krai“, viele Republiken eigenständiger Kulturen, die sonst in der Welt keiner kennt.
Oder hat jemand von euch schon was von Baschkortostan gehört? Karbadino Balkarien, oder die Republik Mordwinien?

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Größer geht nimmer: Russland, wie ein eigener Kontinent.

Mein Weg soll einige tausend Kilometer später auch durch „Utmurtien“ verlaufen, bis nach „Tatarstan“ wo die (muslimischen)Tataren leben, setzt sich fort durch die Republik „Burjatien“ (mal so flächengroß wie Deutschland, aber nur mit einer Mio. Einwohner) – Transbaikalien, eine jüdische Oblast usw….
Jetzt bin ich in der Oblast Leningradskaja. Genau, da wo das alte Leningrad der Kommunisten lag, was heute wieder St. Petersburg heißt.

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Ein Land - viele Länder: Zuerst durchwandere ich die "Leningradskaya Oblast" - allein schon so groß wie Österreich mit 83.000 Quadratkilometern, und 7 Mio Einwohnern die zweit bevölkerungsreichste Region im Riesenland; weil die Großmetropole St. Petersburg hier liegt.

Allein Europa: Wer weiß das Russland ganze 40% unseres Kontinents bedeckt? 40% der europäischen Landmasse sind Russisch, wie also könnte man sich ein Europa ohne Russland vorstellen?
Die gegenwärtige Politik des Westens scheint wohl weder in geographischer als auch in kultureller Hinsicht, sich dessen bewusst zu sein; Europa braucht Russland, Russland braucht Europa.
Beide sind jeweils ein Teil des anderen….

146.111.000 Menschen leben in diesem Riesenreich; Russland ist flächenmäßig das (bei weitem) größte Land der Welt, von seiner  Bevölkerung jedoch nur die Nummer neun.
Auf einer dermaßen überbevölkerten Welt ist die Konkurrenz groß; China z.B. hat fast zehn mal mehr 
Bewohner als Russland, oder nehmen wir Bangladesch, was der Fläche nach 114 mal in Russland Platz fände, aber mit 172 Mio Leuten, demografisch sehr viel größer ist.
Komische Welt.

Wirtschaftlich steht das Riesenreich eher im Mittelfeld, bei fast 2 Billionen Dollar BIP. (Wirtschaftsleistung) etwa gleichauf um den achten Platz ringend mit Indien, und dürfte wohl verlieren: Momentan durchlebt Russland (wieder mal) eine Kriese, erst der Ölpreisverfall, dann das Europa-Embargo (Krim-Ukraine Kriese) und der Rubel – Russlands berüchtigte Währung, nährt sich mit 1 € – zu 73,5 nahezu dem Ramsch-Niveau.
Gut für mich, (mag ich anderseits auch ungern sagen) weil meine paar Euro jetzt richtig Wert im Umtausch haben.

Das merkte ich die Tage auch auf den ersten 60 Kilometern: Mit 1050 Rubel konnte ich den alltäglichen Warenkorb mühelos bestreiten; einkaufen im Markt, wo die Tagesration (Wurst, Käse, Brot, Birnen, Schockolade, Bier, Zahnpasta) mit 620 Rubel (8,40€) viel günstiger zu Buche schlägt, als noch in Estland.

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Reich gedeckt, der Tisch in der Villa Wanderleben. Russische Supermärkte finden sich in jedem Dorf, und eine Tagesration kostet (umgerechnet) keine 10 Euro.

Ein Espresso an der Tankstelle für 90 Cent, mal so billig wie in Italien (wenn auch nicht ganz so lecker wie im Original)
Und ein komplettes Essen in einer der Straßenlokale für die Trucker, für sagenhafte 1,80€ einen Teller Warmes.

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Gutes Leben in Russland: Alle 10 Kilometer gibts Leckeres für wenig Geld. Dafür kommt dank der Sprachbarierre jede Bestellung einem Abenteuer gleich .... was hieß denn nochmal Frikadelle auf Russisch ???

Bei aller Freude, die Sprachbarriere allerdings fordert maximale Diplomatie; allein im Speiselokal an der Straße enwickelt sich die ersehnte Pause zum wahren Abenteuer: Nur mit Mühe gelingt überhaupt eine Verständigung, die auch unter Mithilfe der anderen Gäste, der LKW Fahrer, die äußerlich auch als Profi-Wrestler durchgehen würden, zu verdanken ist; schon als was Besonderes ziehe ich, der offenkundig westliche Ausländer die Aufmerksamkeit auf mich.
Hier und da ertönt etwa „Fikadell“ oder „Wuurscht“ – was die rauen Gesellen eben so wissen…. und übersetzen ihre Ideen zur meiner Bestellung.
Am Ende kommt dabei eine Bulette mit Kartoffelpüree raus.

Es ist heiß in Russland, nicht nur politisch, auch auf der Straße: 30 Grad und permanent Sonne braten mir die ohnehin gegärbte Haut.
Zuerst schaffte ich die 22 Kilometer nach Kingissepp, der nächsten Stadt hinter der Grenze, durchquerte den recht großen Ort, fand sogar eine englische Bar wo ich zumindest die ersten Russlanderfahrungen hier posten konnte, sowie auf Facebook.

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Victor Kingisepp verdankt die 46.000 Einwohnerstadt ihren aktuellen Namen, einem estnischen Revolutionär alter Tage, auch wenn die Leute ihren Ort lieber "Yamburg" nennen, so wie ganz früher die russischen Stadtgründer es nannten.
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... Kenne ich doch irgendwo her ? ...

Dann weitere vier Kilometer schlug ich mich in den Busch, wieder verfolgt von Trillionen Mücken, was mich wieder zwang total eingepackt (zwei Pullover, Hose lang, Kapuze auf, Handschuhe an) das Zelt im Dickicht aufzuschlagen.
Nassgeschwitzt fletze ich nackt anschließend im sicheren Zelt, versuche mich mit Mineralwasser aus der Pulle und dem Lappen wenigstens etwas zu waschen.

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Moskitohölle, aber einmal im Zelt, Reisverschluss zu, ist alles wieder ganz "Feierabend".

Der nächste Tag war zwar monoton, aber schwelgte doch so in meiner Russlandeuphorie, dass 37 Kilometer am Ende des Tages dabei rauskamen.
Einige zerlotterte Dörfer durchquerte ich, immer längs dieser dröhnen Straße, die aber so wunderbar breit einfach wanderfreundlich Platz bietet.
Russland ist groß, und ich hoffe so sehr, dass seine Straßen weiterhin so großzügig ausfallen.

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In den Dörfern leben die Leute oft sehr bescheiden. Viele Häuser wurden einfach selbst zusammen gezimmert.

Die zweite Nacht war deutlich besser: Beim Dorf Chirkovitsy nehme ich mir wieder das Land was mir gefällt, ziehe 500-600 Meter abseits der Straße über einen Pfad bis zum Ende des weiten Feldes.
Blumen, Wiese und ja (!) keine Mücken hier draußen in der Weite.
Offenbar scheuen die Plageviecher das offene Land, den milden Wind hier über den kilometer großen Wiesen.

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Mein Russland, allein mein ....

Endlich bleibt das Zelt offen, der Tisch ist reich gedeckt in der Villa Wanderleben, ich schmause und labe mich in den siebten Himmel …. ein wahrlich gerechter Lohn nach all den Kilometern ….

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Ich nehme mir das Land was ich brauche. Weite Wiesen überall, ein neuer Tag, zurück zur Straße, auf in die Weite ....

Wer schenkt mir Kilometer?
Russland hat wahrlich genug davon; 50 Cent pro Kilometer und das Land soll zeigen was Weite heißt…
Der Rubel ist zwar billig, aber mit aktuell 320€ im Wanderleben-Etat, immernoch zu wenig bis Kazan, dem großen Zwischenziel… das Abenteuer muss weitergehen …