Estland liebt mich …

Mir ist mulmig: Bis Samstag muss ich den Wanderwagen irgendwo unterkriegen für die acht Tage die ich fort bin, da ich den natürlich nicht mit in den Flieger packen kann, ohne Weiteres.
Also hoffen dass es letztlich klappt….
Zelten auf herrlichen Wiesen am Waldrand ist wieder angesagt, wie immer mit Buffet a la Supermarket und dem Plan final den Ort Tapa zu erreichen; lediglich wenige Dörfer liegen dazwischen, abgelegen noch dazu aber es kommt wie immer anders:

Hängen bleibe ich im Dorf Jäneda, schon weil beim Wasser kaufen im „Kauplus“ (kleiner Laden) mir die Info zukommt, hier gäbe es ein Hostel.

„Hostel“ heißt international eigentlich alles was ein einfaches Gasthaus in jeglicher Weise ist. So auch hier, das schwer zu erkennende Gasthaus im Stil zweckmäßiger Backsteinarchitektur der Sowjetzeit fügt sich in einem Ensemble entsprechender Bauten der 80er Jahre ein.
Damals war der Komplex im Rahmen einer Kolchose als großes Schulzentrum für Landwirtschaft entstanden.
Heute längst zweckentfremdet, ein lohnendes Ziel meiner Hoffnung schon hier einen Parkplatz für den Wanderwagen zu finden.
Gesucht – gefunden: Schnell findet meine Story Gehör, die adrette aber freundliche Dame am Schalter spricht sogar Deutsch und mein Ansinnen erfüllt sich obendrauf noch mit einer kostenlosen Nacht hier.

Estland scheint mich offenbar zu lieben. Wieder ein „Hotel“ wieder eine gratis Nacht. Und vor allem eines haben sie hier auf dem Lande: Platz.
Der Wanderwagen steht gut und dauerhaft in einer der vielen Kammern des großen Baus. Ich bin begeistert.

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So sieht das Gasthaus in Jänada aus. Einst als Schlafkaserne für die Landwirtschaftsschule zur Sowjetzeit, heute eine Art Jugendherberge mit viel Platz.

Wieder Kontraste: Heute mal ein klassisches Zimmer im Stil alter Jugendherbergen. Es riecht irgendwie noch nach Farbe längst vergangener Anstriche, drei einfache Betten im kleinen Raum, und ich sofort erstmal platt wie eine Flunder zum Mittagschlaf die Gunst der Stunde fröhnen.

Jänada, ein 450 Einwohner Dorf mit viel Geschichte; vor 670 Jahren gegründet, war es noch kompakt mit Holzhäusern ein kleiner mittelalterlicher Marktflecken in den tiefen Weiten der baltischen Wälder.
Deutlich später, so gegen 1880 von einer deutschen Gutsfamilie ausgebaut mit großen Gehöft, was noch heute ganz deutlich das Zentrum markiert; der alte Hof mit seinem typisch estnischen Granit-Bruchstein Mauerwerk umfasst einige große Gebäude, wie den Pferdestall, oder einer alten Fabrik mit Kamin.
Der alte Pferdestall ist heute ein Gasthof mit rustikaler Küche und gutem Bier vom Fass.
Das Guthaus wo die Familie wohnte, heute ein Kulturzentrum mit Museum, offenen Räumen für die Dorfbewohner dürfte das Wahrzeichen von Jäneda sein, allein schon wegen seines Schlossartigen Aussehens.
Anschließend gehen die Bauwerke in die weiß, sowejet ästhetische Landwirtschaftsschule über, – heute eben ländliches Gasthaus und Konferenz sowie Hochzeitsdomizil für die weite Umgebung, bis zur Großstad Tallinn.

Eine Kirche hat übrigens Jäneda nicht. Den Sowjets war das sowieso egal damals als die Gutsfamilie enteignet den Ort verlassen musste und hier erstmal ein ganzer Tross trister Sozialbauten entstand, wo noch heute fast alle Einwohner leben.

So, geschafft: Morgen geht dann ab die Post zurück nach Tallinn, eben mit dem Zug (ein Bahnhof liegt in zwei Kilometern) und um 16 Uhr der Flieger nach Düsseldorf. HEIMATLEBEN für sechs Tage sind erstmal angesagt. Danach komme ich wieder, und weiter gehts…. immer nach Osten. Russland wartet.

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Überall droht der Zerfall in Jäneda, doch meist mit Erfolg erhalten die wenigen Bewohner ihren weitläufigen Ort vorbiltlich; weite, gemähte Rasenflächen überall, öffentliche Nutzung der alten Gebäude, und man tut was, hier, da - überall.

Der Weg ruft ….

Oder die laute Straße.
Deftig brauchts der Wandersmann: Am Labsal des morgentlichen Buffets im Hotelrestaurant versuche ich mich der Völlerei; gut english Breakfast soll es sein, damit was auf die Rippen kommt ( Mama sah die letzten Bilder, „mann bist Du dünn, oh jeee“)

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Deftig solls sein: Drei Teller hab ich geschafft....

Ich bin früh raus aus dem Hotel, umkreise etwas verärgert mehrmals dieses riesige Einkaufzentrum „Norde Mall“ weil dieser Pfandautomat für all die leeren Plastikflaschen irgendwo hier sein muss, höre noch meinen Namen gerufen: Reino, der gute Gönner von Tallinn kommt aus der Drehtür gelaufen, ruft mich wie ein Freund der ohne goodbye von Dannen will.
So schön, hatten wir noch geschafft uns zu verabschieden, offenbar sind wir beide voneinander beeindruckt, stelle ich fest. Jeder aus seiner ganz eigenen Welt hinaus.

Wie betrunken von all diesen Eindrücken, den Bauch voller Bohnen und so guter Leckereien, macht es erst Spaß aus der Stadt hinaus zu wandern.
Bald komme ich auch am Flughafen vorbei, den ich in kürze von innen wiedersehen werde, gerate aber dann in einen Verkehrskollaps aus LKWs im Amoklauf.
Kein Seitenstreifen mehr, kein Garnichts. Dann auch noch eine viele Meter lange, alte Blutspur auf dem Asphalt, ich gucke leider zu deutlich hin: Organe und/oder Körperteile eines großen (unerkenntlichen) Tieres im Gras neben mir… es donnert nur so der Schwerverkehr Zentimeter vorbei…

Gottseidank biegt viele Kilometer später der Weg in ruhigere Gefilde. Jetzt wirds wieder Wanderleben – Romantisch und kann wieder träumen längs der Kilometer.

80 Kilometer in zweieinhalb Tagen sind im Plan.
Warum?
Es ist gebucht: Tallinn – Düsseldorf für sieben Tage.
69 Euro für hin und zurück mit Ryanair. … Würde ich hier doppelt ausgeben wenn ich bliebe bis ersten Juni (Visastart Russland) – drei Tage noch, und die wandere ich lieber als in Tallinn teures Bier zu schlürfen.

Kontrast total: Vom Hostel zum 4 Sterne Palast.

Estland ist gut zu mir.

Das erst so böse, kapitalistische Tallinn nun von der Sonnenseite total.

Katerfrühstück an diesem Mittwochmorgen und ja, diese Erinnerung von dem Typen gestern am Tresen, der sagte ich soll einfach ins Euroopa Hotel kommen. Ein Zimmer sei frei für mich, eine Nacht wolle er dem Wanderleben spenden.

Etwas ungläubig verabschiede ich mich vom gemütlichen Hostel, wollte sowieso weiter, eigentlich zum Strand rauf, dort in den Pinien zelten…
Mal sehen, das Euroopa Hotel wirkt erst etwas unheimlich; der Wanderwagen spiegelt sich auf den großen Fenstern mit all den dicken Autos und Reisebussen vor dem Komplex.
Flaggen wehen hier, eine ganz andere Klientel als noch im Old Town Hostel flaniert hier durch die mächtige Drehtür, zaubert mich + Wanderwagen in die große Lobby; Glas, Metall, Holz, Weite. Eine edle Halle voller großer Sofas, es schallt und halt, Espressotassen klimpern, dezent rieselt Lounge Musik.

Boah… drei adrette Gestalten an der Rezeption mustern meine auffällige Erscheinung, ich steuere den Wanderwagen drauf zu und sage nur noch diesen Namen von gestern….
„Oh yes, moment i call Mister Hürünen soon“ … also hat es gestimmt; mein zweiter Traum nach Kalisz/Villa Tlokinia (Polen) geht in Erfüllung.
Gratis-Hotel-Couchsurfing ist angesagt.

Bald erscheint Reino diesmal ganz fein in Anzug und Kravatte, grüßt mich wie einen alten Freund, führt mich persönlich auf Zimmer Nr. 212: Balkon mit Hafenblick. Tallinn küßt mich in den Traumtanz…
Ich frage diskret und etwas scheu, ob auch wirklich alles „for free“ ist. 120€ die hier für so ein Zimmer fällig werden, kann ich mir beim allerbesten Willen nie leisten.
Alles Gratis, morgen auch das Frühstücksbuffet. Keine Bäume muss ich kappen, keinen Garten umgraben, kein garnichts. Estland und Reino haben es zu was gebracht, und sie teilen gern ihren Wohlstand, zeigen was sie haben.

Oh mann, kaum ist die Tür hinter mir zu, bin ich allein hier…. ziehe mich komplett aus und pflege mich, mache die Füße fein, rasiere mich überall, dusche opulent wie von Sinnen; so schön das Hostel mit all den Leuten, so herrlich der private Genuss totaler Reinlichkeit in dieser sterilen Luxuszelle.

Immernoch brennt die rote Haut besonders im Gesicht, creme mich ein und schlafe ganze drei Stunden anschließend.
Bald meldet sich zuverlässig der Magen. Gleich neben dem Hotel bin ich sofort in Tallinns größtem Supermarkt, dem Norde Center, finde dort billig und warm abgepackt russischen Plov-Reis und eine gewaltige Hänchenkeule, die natürlich auf dem Balkon mit Hafenblick verspeist werden soll.

Es geht wieder besser; die Sonnenbrände heilen aus, das Gesicht ist nach wie vor noch ganz schön gebrannt, nackt feiere ich für mich ganz allein den Luxus….
Schaue BBC im großen Fernseher, träume, höre die Möwen und schlafe wieder ein.

Treffen in Kuala Lumpur…

31.000 Kilometer weiter dürfte ich wohl dort ankommen, verspreche ich Silvan Kanga, den ich hier im Old Town Alur Hostel zum Bier treffe.
Ja, Kanga mag gern Bier, ein Malaisier dessen Mutter Chinesin und Vater ein Inder ist, ein „Chinder“ entsteht somit als Ergebnis wenn sich die größten Völker der Welt mischen.
Als Hindu darf er auch dem Alkohol fröhnen, wo wir uns nicht bitten lassen…. Dosenbier ist billig genug, wir beide rechnen mit jedem Cent, Kanga jettet mittels Online-Flugbörsen billig durch Europa, reist wie so viele junge Leute von heute soviel wie nur irgend möglich.

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Was fehlt noch in Tallinn?
Ach jaaaa, klar das obligatorische Guinness!
Ein Splin von mir in jeder Haupstadt ein frisch gezapftes Pint irischer Internationalität zu schlürfen, sozusagen ein Ritual.
Einen Tresenpartner habe ich ja auch schnell gefunden: Kanga und ich suchen nicht lang in der von Lokalen übervollen Tallinner Altstadt, wittern im „Dubliners“ das irische Flüssiggold on Draft ….

Gepfefferte 4,20 € – ein Normalpreis eigentlich, kostet das Glas, nahezu von allein leert sich die herb feine Herrlichkeit sodass ein weiteres folgt, und noch eins, und …..
Kanga und ich spülen uns den unheimlichen Kniff in der Magengegend, wohlwissend jetzt gewaltig über unsere Verhältnisse zu leben/trinken, einfach hinweg.
Ok, Riga war auch opulent, allerdings eben mit Freund Georg der mich einlud.
Tallinn ist jetzt drann, aber Georg ist fern, nicht aber Reino Hürünen, der Tresennachbar mit trüben Cocktail, etwas britisch, eher irisch aussehend (Guinness lässt offenbar jeden irisch erscheinen?) ein gemütlich und sehr lockerer, aber berechnend auftretender, etwas dicklicher 35 Jähriger.
Hörte unsere lauten Gespräche und war interessiert am Wanderleben.

Und so kommt eins zum anderen: Reino, ein ganz echter Este, besitzt mal so ganz nebenbei das riesige Euroopa Hotel am Hafen.
Ein mondäner 4 Sterne Palast, ganz neuzeitlich im Glas-Stahl-Beton Look des supermodernen Hafenviertels.
Und?
Was kommt wohl?

…..ICH BIN EINGELADEN……

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Tallinn (435.000 Einwohner)

Na, wo mag ich denn hier angekommen sein?

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Invasoren kommen gewöhnlich vom Meer. So war es schon immer und heute auch: Wie Raumschiffe nähern sie sich dem Hafen, zielstrebig und zimlich schnell, 120.000 Tonnen, 140 Meter lang, 60 hoch und vollbesetzt mit 3000 Touristen.
Gleich dreifach aber das Ganze; Aida und zwei andere Clubschiffe fluten erst den Hafen mit ihren Landgängern, dann die nahe Altstadt von Tallinn, die ohnehin schon mit normalen Saisontouristen überfüllt jetzt noch mehr verstopft.

Mittendrinn manövriere ich den Wanderwagen durch die Massen, lenke sogar das eine oder andere Handyfoto auf die Lettern des Wanderwagens….  „Walking around the World“ versteht wohl jeder, auch Anneliese und Herbert die im sächsichen Laut darüber ihre Verwunderung austauschen.
Unzählige Japaner, Franzosen und offenbar sogar eine Homo-Reisegruppe aus Holland, sowie hochbetagte im kompletten Jack Wolfskin Outdoordress, holpern und stolpern über das grobe Kieselpflaster dieser so fantastisch erhaltenden Altstadt.

Alles voll, die zahllosen Cafes, Kneipen und vor allem Restaurants, wo nervige Kellner schon auf der Straße auf Beutefang gehen, um auch den letzten Tisch zum maximalen Touristennepp zu füllen.
Ich komme mir hier vor wie in Florenz, ja genauso.
Dort war auch die historische Fülle so groß so unbeschadet überdauert.

So wirbt zurecht Tallinn in all den Reisekatalogen mit seinem Weltkulturerbe als „außergewöhnlich vollständig und gut erhaltenes Beispiel einer mittelalterlichen, nordeuropäischen Hansestadt“.
Selbst weit außen kam mir die Stadt wieder anders vor als Vilnius oder Riga, wo Tallinn mit seiner wäldlichen Einzelhausverbauung schon fast idyllisch vorstädtisch einen Gegensatz zum obligaten Plattenbau setzt.
Wobei die sowjetische Platte auch hier vorhanden, verzieren die allgegenwärtigen Waldkiefern das Bild mal ganz akzeptabel. Billigen Wohnraum hat die große Stadt deshalb noch bis in weiter Zukunft, da ihre 435.000 Bewohner wohl kaum mehr werden dürften; mit 30% der gesamten estnischen Bevölkerung hat Tallinn eine riesige Alleinposition im kleinen Land. Hier verdient man das meiste Geld im Baltikum, würde ja soooo gern auch ökonomisch an die skandinavischen Vorbilder Schweden und Finnland anschließen, aber lediglich das unverschämte Preisniveau in Tallinns Lokale erinnern an die gewünschte Wirklichkeit in den Portemonaies der Esten.
Mit 800 € im Schnitt, verdienen sie bei weitem nicht so viel wie die mittlerweile reine Touristenstadt Tallinn es allen abverlangt.
Auch wenn eine ansehnliche Oberschicht der Esten tatsächlich vorhanden, nahezu 20% der Stadt ausmachen, gehen die Restlichen an die wirtschaftliche (künstlich hohe) Realität vorbei, überlegen wie überall im Baltikum mal auszuwandern.

Lediglich einer Gruppe Mensch ist das alles recht Wurscht: Den Touristen. Ihnen gehört nun die gesamte Altstadt jetzt ab Mai, stellen den größten Wirtschaftszweig der Hafenstadt, zahlen einfach alles was auf den Speisekarten steht, wie sie es in Paris, Amsterdam oder Rom ja auch seit je her machen.
Hat sich bis nach Tallinn rumgesprochen und zak, man will mir drei Euro für den Kaffee ergaunern, mindestens 4,50€ für’s Pint Bier, ca 10 € für die billigste Pizza.

Neue Welt, neuer Wahnsinn. Wie gut dass es so böse Megakonzerne wie Mc Donalds gibt: Hier finde ich meine ersehnten 1200 Kilokalorien (Bic Mäc Menü – Medium) für unschlagbare 5,15€.
Dosenbier und Abgepacktes vom Kaufladen dazu.
Im zehn – Bett Zimmer die Nachtruhe (wenn möglich…) für 10€.

Vier Hostels hatte ich abgrasen müssen, alles dicht, alles belegt. Rollkoffer überall, schon gleich am Eingang des Tallinn Backpackers komme ich mit dem Wanderwagen kaum an die ganzen Rollkoffer vorbei, überall superjunge Mädchen die mit ihren Smartphones ihre Hostelworld Reservierungen cheken, Flugbörsen professionell durchsuchen, weitere Buchungen nach überall planen.
Endlich was frei, im Old Town Hostel komme ich unter, der Wanderwagen parkt offen im Raucherhof.

Oh Mann, Tallinn hatte ich mir einfacher, netter vorgestellt.
Dennoch plane ich mindestens drei Tage hier, weiß nur nicht wie genau, weil diese Stadt kostet richtig viel…. und Lust auf dieses Freilichtmuseum habe ich irgendwie auch keine mehr.
Ein Paar Heineken und mir fältt schon was ein.

Tallinn muss im Winter echt wunderbar sein: Im Schnee wenn alles ganz klar blichtet ist, ohne trüben Himmel. Dann sind die gewaltigen Aida und Rollkoffer-Invasoren fern…. und die Stadt gehört wieder den Esten, sowie einigen, wenigen Besuchern die kaum auffallen.
Nicht wenige Lokale haben dann zu, oder reduzieren die Wucherpreise.
Dann wäre man in einem echten Tallinn, wie damals, als es noch unter deutschem Besitz „Reval“ hieß. Das ist gerade mal 98 Jahre her.
Angefangen hat alles mal mit einer hölzernen Burgfestung am Meer, mit kleinem Hafen vor 850 Jahren den die Esten hier aufgrund der guten Lage erbauten. Wurden natürlich aber schnell erobert, erst von Dänem, dann Schweden, dann Deutsche, usw… doch einzig schlimm bleibt ihnen die russische Besatzung historisch im Gemüt; noch bis heute gibt es ordentlich Zoff mit dem großen Nachbarn Russland.
Viele Bürger des kleinen Landes sind etnische Russen, ein Relikt aus Zeiten der Sowjetunion und dem Versuch Estland zu „russifizieren“.
Gelungen ist das nie, und somit auch keine wirkliche Befriedung der baltischen Kulturen mit Russland.

Naja, zumindest sind die Grenzen offen, und wie überall in der Welt wirkt der Wandel durch Handel: Russische Touristen kommen in Scharen aus der Nachbarschaft herbei.
Und auch so viele Esten erzählen so gern von Sankt Petersburg da drüben ….

Mann (und Frau) haben schon Interesse füreinander beiderseits der Grenzen.

Bilder: Tallinn und der Supertourismus…. im Sommer Kulisse, im Winter Tallinn.

Noch 25 Tage bis Russland …

Und weiter gehts, verbringe den Abend allerdings in meinem Zelt, einige Kilometer weiter in Richtung Tallin. Estland = Sonnenland, noch immer schmerzt die Haut, und muss wie eine Mumie eingehüllt wandern.
Spontan schlage ich mich seitens in den Busch, durchstoße die kratzige Vegetation bis zur einer riesigen, offenen Weidelandschaft; mein Heim für heute Nacht.

Nächster Tag: Der 07. Mai, wieder total sonnig, 10 Std Schlaf lassen auf Regeneration der roten Haut hoffen. Noch 36 km bis zur Haupstadt und da ist erstmal Hostellife angesagt.
Im großen Dorf Kohima finde ich ein tolles, großes Cafe, 1,50€ für die Fanta + WiFi, 13 € im Supermarkt darunter. Würde jetzt noch gern viel schreiben, aber Tallin ruft, Hostelsuche, Couchsurfing und ja: Check in bei Ryanair; ich habe es gatan: Am 14 Mai geht ein Billigflieger ab nach Düsseldorf, (69 €) nur für sechs Tage, sechs Tage bei der Familie…. aus Wanderleben wird ganz kurz Heimatleben.

Am 21 Mai gehts wieder zurück, weiterwandern nach Russland ………..

Jetzt aber erstmal nach TALLIN.

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Rapla, Hagudi & Narzissen.

… Sind erstmal im Programm: Rapla, die erste Siedlung städtischen Ausmaßes ( 5.500 Einwohner ) – für Estland wirklich eine Stadt durch und durch, erreiche ich nach vielen Tagen platten Landes.

So aufgeräumt der Flächenstaat in Wald und Flur, so akkorat auch seine Urbanität; Rapla hätte vom Ortsbild auch irgendeine sterile Siedlung in der Lüneburger Heide sein können, alles ist perfekt, die Blechlawine auf den neuen Asphalt weist in Richtung Wohlstandmaximum mitteleuropäischer Normalität.
Ist ja auch gut so, aber irgendwie alles gleich, keine Exotic mehr, Bankautomaten und ein Überangebot an Supermärkten drängen sich im Bild auf.

Da zeugt Estlands größte Landkirche, sichtbar vom kommerziellen Ortskern am Rand der Siedlung gelegen, von anderen Zeiten.
1901 errichtet, dämmert der Sakralbau zwar als Wahrzeichen, aber kultureller Nebensache, vor sich hin. Das Portal war mit Eisengittern verschlossen.

Erstmal einen Nudelsalat für 2,20€ von der Ladentheke, die es hier reichlich gibt. Deutlich höher fällt hier das Preisniveau aus, die Cola in der Kneipe nebenan kostet ebenfalls 2,20€, blind ordere ich später noch den obligaten Cappuccino, auch satte 2 €, wärend ich im WiFi viele Mails bearbeite, und ausgibig mit Mama „scype“. Gibt einiges zu besprechen. Viel Bewegung kommt ins beschauliche Wanderleben.

17:00 Uhr.
Zeit weiter zu ziehen, aber nicht wie immer, in den nächsten Wald zum zelten, sondern sechs Kilometer weiter ins Dorf Hagudi, wo ich mit Ants verabredet bin.
Total platt und ausgelaugt erreiche ich das einfache Haus, umgeben vom großflächigen Nutzgarten, hatte die Adresse noch vor Tagen wärend einer meiner Cappuccino-Internet Sitzungen aufgeschrieben. Bin jetzt hier und Ants, ein freundlicher aber komischer 31 jähriger, der im stotter-Englisch mir nicht wirklich so klar machen kann, was er eigentlich so alles macht.

Blumenzüchter sei er jetzt in dieser Zeit, Informatiker – wie irgendwie so viele junge Leute hier, anderseits. Er mache viele Sachen, sagt er und die rustikale Mutter hat gewaltige Mengen schiere Kartoffeln mit Speck auf den mit Krimskrams überladenen Küchentisch gewuchtet. Die hohe Pfanne ist übervoll und somit jeder Hunger chancenlos heute zu überdauern.

Des selbst mitgebrachte Bier rettet weiterhin mein sensibles Gemüt jetzt beim Mahl; die rote Gesichtshaut spannt fürchterlich, und ich versuche Ants beizubringen, morgen den ganzen Tag hier zu weilen, da unbedingt eine kurze Auszeit her muss. Zu wild sind die Sonnenbrände an Arm, Bein und Hals… zu müde überhaupt alles an mir.

(Bilder: Rapla, die „City“ im estnischen Outback, lustig: Die zerschnittenden Autos im Panoramamodus meiner Kamera. – . … Ich in meinem Karbuff, abseits der Sonnenkraft, mal Zeit haben, lesen, schlafen, dösen ….)

Toll sehe ich aus …. oder?

Frisch getoastet von der ersehnten Frühlingssonne, laufe ich jetzt vermummt wie ein Bandit weiter nach Norden…. 20 Grad warm, aber mit Handschuhe und Mütze, die heiße Haut schwitzt und schmerzt darunter, wie ein Vampier fürchte ich nun das Licht und muss unbedingt den verdammten Sonnenbrand pflegen; viel Salbe (Hametum) auf die rissigen Lippen, Creme für die Gesichtshaut, welche spannt und brennt…. jajaja, wieder jammere ich, aber mein Gott, hab mich echt sowas von auf die Sonne gefreut und dann das.

Wanderleben Alltag eben, aber natürlich: Genießen kann man auch, steif und vermummt erfreue ich mich eben an die neue Zeit, auch wenn immernoch die meisten Bäume völlig kahl in ihrer Winterstarre weilen (vielleicht haben die auch Sonnenbrand) – nur die Birken und Lärchen treiben so allmählich.
Die weite, platte Landschaft, sonnengeflutet immer satter auflebend in Estland, lässt auch bei mir Frühlingsgefühle aufkommen, – die aktuellen Einschränkungen sind ja gottseidank nur kurzfristiger Natur, weshalb der Blick nach vorn, ja der Blick nach Norden so verheißungsvoll ist; ein Gastgeber wartet schon, und Tallin die große Haupstadt auch. Noch 70 km bis dahin ….

Man, man, erst erfroren, dann fast verbrannt ….

Zak auf zak geht’s hier mit dem Klimawandel; Baltikum extrem, erst nasskalt, tagelang, wochenlang und ganz plötzlich Hitze, 23 Grad und vor allem SONNE SATT.

So sehr das meine russischen Muskelspiele (Bild) auf der ich stolz wie Vladimir von Wanderleben, meine frische Bräune zeige, zu früh der Freude sind; aus Braun wurde flux Rot!

Jetzt brennt alles wie Feuer, Backe, Arme, Hände, und Waden rot, röter, am rötesten….. aaaaaauuuuuaaa…

Wie eine Mumie laufe ich jetzt dick eingepackt, langärmelig mit Schal und Handschuhe (!) durch die platten Weiten Estlands, bei herrlichen 20 Grad schwitzend.
Keine Chance die Haut jetzt frei zu machen, jede Minute Sonneneinwirkung sind jetzt fatal. Salbe im Gesicht und weiterlaufen …….

Durch ein so eine platte, flache Gegend wie Holland. Keinen einzigen Berg haben die hier in Estland. Dafür aber Platz, reichlich Platz, wenn auch jeder Quadratmeter wie gebügelt Weide, Acker oder Garten ist.
Estlands Wohlstand definiert sich auch, und eben ganz besonders, durch seine Flächen. Riesig sind hier die Gärten, wie kleine Parks.
Die Felder kilometerweit, entlang der glatten Straße, immerwieder ein Schilderschwall feinster EU-Norm, die Grashalme sollen hier genauso gebügelt aussehen wie beim großen Vorbild Schweden.

So sind hier die Grundstücke offen. Zäune gibt es hier auf dem Land eher selten. Dennoch wirkt alles hier recht privat, Eigentum und Grundbesitz wird ganz in skandinavischer Manier respektiert, keiner hat Angst vor niemanden. Hier draußen in der estnischen Provinz bin ich eher dem schwedischen Upssala näher als St. Petersburg, Holzhäuser in Leichtbauweise und ganz, ganz viel Rasen.
Die Wälder aufgeräumt. Kleine Schilder hier und da die alles Mögliche bedeuten; korrekt will man hier sein, alles ist glatt und frisiert. Schotterpisten die den Wanderwagen kräftig durchschütteln sind da vielleicht das Wildeste hier.

Wenn da nicht ständig diese Trümmerfelder zusammengebrochener Holzhäuser wären; kurzlebig im Leichtbau zerfallen die immer mehr werdenden Landhäuschen als Ergebnis einer drastischen Überalterung; kaum noch junge Leute auf dem Land, und plötzlich sind wir wieder ganz im Baltikum mit seiner demografischen Schrumpfkultur.

Auch hier in Estland, wo die Einkommen mit ungefähr 800 € dem Griechenlands entspricht (bei allerdings erfeulichen und lobenswerten halben Preisniveau), dem höchsten der drei baltischen Länder, kostet Land hier allenfalls ein Appel und Ei….  also, auf, auf nach Estland, Land kaufen und Städte bauen…..

Dachte man übrigens vor ein, zwei Jarhunderten auch: Landkirchen wurden aufwändig gebaut im Glauben bald hier große Gemeinden wachsen zu sehen. Dann aber kam der Kommunismus, später der Pillenknick….  und heute stehen sie eben noch, teils prächtige Kirchen weit außerhalb der verschlafenden Dörfer und harren der Jarhunderte.

Jetzt sitze ich erstmal mit kalten Lappen an den sonnenverbrannten Wangen zum Cappuccino & WiFi im 1.350 Seelen Dorf Järvakandi, wo ganz schlicht skandinavisch die Kirche sprichwörtlich zurück ins Dorf geholt wurde; ein kleiner Holzbau (Bild) in Sichtweite einer riesigen Fabrik, umgeben von Unmengen an Rasenflächen, hohen Kiefern und kuriosen Plattenbauten dahinter.
Muss auch nicht größer sein; in Estland, ganz im Gegensatz zu den Letten, Litauern und erst recht den Polen, haben die vielen Alten hier im Dorf kaum was am Hut mit eurer Heiligkeit.
Eben, alles ganz schwedisch hier…

Eine echte Stadt: Pärnu ( 41.000 Einwohner )

Das tut so gut. Endlich mal wieder Stadtleben, Stunden im Cafe sitzen und die Weltpresse im Internet studieren. Urbanes Campen in einer Straßenschlaufe wo etwas Wald gut geschützt zwischen all den Schnellstraßen mir Deckung für die Nacht bot.
Pärnu kommt als erste überhaupt nenenswerte Siedlung seit 63 km auf estnischen Boden in großen Abstand zur nächsten; erst in drei, vier Tagesmärschen dürfte ich die nächste Kleinstadt erreichen, Rapla weit in der leeren Provinz.

765 Jahre alt ist diese ehemalige Hafenstadt, damals von deutschen Gründern Parnau genannt, nun seit fast 200 Jahren Badekurort; Erst deutsch, dann schwedisch, russisch, sowjetisch und letztlich heute estnisch hat Pärnu einiges mitgemacht.
Alte, schrullige Holzhäuser neben ollen Plattenbauten, immer wieder glanz- moderne Glasbauten, und im Zentrum Barock in Patina; viele Cafes und Speiselokale dort sind für mich No go Areas, viel zu teuer hebt sich das chike eher dem optischen Overstyle als Gemütlichkeit versessene Lokal vom Landesdurchschnitt ab.

Etwas außerhalb der überschaubaren Altstadt finde ich gute Lokale mit WiFi und neugierigem Personal die gern um ein Foto von sich + Wanderwagen fragen.

Aufgeblähte Gewerbegebiete lassen den Ort größer wirken, aber Pärnu schrumpft, ganz im baltischen Mainstream und schafft es trotz aller wuchtigen Bauflächenerschließungen der letzten 20 Jahre, nicht seine Bewohner zu halten.

Ich lasse mir Zeit für den Ort, und lande letztendlich bei Mc Donalds, auf dem Weg hinaus aufs Land. Schreibe jetzt und scype mit der Familie die ich so vermisse.
Jaja, Mc Donalds = Heimatgefühle; dieses „goldene M“ hat’s mir angetan … so war es immer ein Ausflugsziel der Familie, und somit bis ins Wanderlsben fernab; schnöde, aber effektvoll weile ich bei Bic Mac und Pommes in einem kleinen Zuhause, ganz wie in Recklinghausen damals.