Tallinn (435.000 Einwohner)

Na, wo mag ich denn hier angekommen sein?

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Invasoren kommen gewöhnlich vom Meer. So war es schon immer und heute auch: Wie Raumschiffe nähern sie sich dem Hafen, zielstrebig und zimlich schnell, 120.000 Tonnen, 140 Meter lang, 60 hoch und vollbesetzt mit 3000 Touristen.
Gleich dreifach aber das Ganze; Aida und zwei andere Clubschiffe fluten erst den Hafen mit ihren Landgängern, dann die nahe Altstadt von Tallinn, die ohnehin schon mit normalen Saisontouristen überfüllt jetzt noch mehr verstopft.

Mittendrinn manövriere ich den Wanderwagen durch die Massen, lenke sogar das eine oder andere Handyfoto auf die Lettern des Wanderwagens….  „Walking around the World“ versteht wohl jeder, auch Anneliese und Herbert die im sächsichen Laut darüber ihre Verwunderung austauschen.
Unzählige Japaner, Franzosen und offenbar sogar eine Homo-Reisegruppe aus Holland, sowie hochbetagte im kompletten Jack Wolfskin Outdoordress, holpern und stolpern über das grobe Kieselpflaster dieser so fantastisch erhaltenden Altstadt.

Alles voll, die zahllosen Cafes, Kneipen und vor allem Restaurants, wo nervige Kellner schon auf der Straße auf Beutefang gehen, um auch den letzten Tisch zum maximalen Touristennepp zu füllen.
Ich komme mir hier vor wie in Florenz, ja genauso.
Dort war auch die historische Fülle so groß so unbeschadet überdauert.

So wirbt zurecht Tallinn in all den Reisekatalogen mit seinem Weltkulturerbe als „außergewöhnlich vollständig und gut erhaltenes Beispiel einer mittelalterlichen, nordeuropäischen Hansestadt“.
Selbst weit außen kam mir die Stadt wieder anders vor als Vilnius oder Riga, wo Tallinn mit seiner wäldlichen Einzelhausverbauung schon fast idyllisch vorstädtisch einen Gegensatz zum obligaten Plattenbau setzt.
Wobei die sowjetische Platte auch hier vorhanden, verzieren die allgegenwärtigen Waldkiefern das Bild mal ganz akzeptabel. Billigen Wohnraum hat die große Stadt deshalb noch bis in weiter Zukunft, da ihre 435.000 Bewohner wohl kaum mehr werden dürften; mit 30% der gesamten estnischen Bevölkerung hat Tallinn eine riesige Alleinposition im kleinen Land. Hier verdient man das meiste Geld im Baltikum, würde ja soooo gern auch ökonomisch an die skandinavischen Vorbilder Schweden und Finnland anschließen, aber lediglich das unverschämte Preisniveau in Tallinns Lokale erinnern an die gewünschte Wirklichkeit in den Portemonaies der Esten.
Mit 800 € im Schnitt, verdienen sie bei weitem nicht so viel wie die mittlerweile reine Touristenstadt Tallinn es allen abverlangt.
Auch wenn eine ansehnliche Oberschicht der Esten tatsächlich vorhanden, nahezu 20% der Stadt ausmachen, gehen die Restlichen an die wirtschaftliche (künstlich hohe) Realität vorbei, überlegen wie überall im Baltikum mal auszuwandern.

Lediglich einer Gruppe Mensch ist das alles recht Wurscht: Den Touristen. Ihnen gehört nun die gesamte Altstadt jetzt ab Mai, stellen den größten Wirtschaftszweig der Hafenstadt, zahlen einfach alles was auf den Speisekarten steht, wie sie es in Paris, Amsterdam oder Rom ja auch seit je her machen.
Hat sich bis nach Tallinn rumgesprochen und zak, man will mir drei Euro für den Kaffee ergaunern, mindestens 4,50€ für’s Pint Bier, ca 10 € für die billigste Pizza.

Neue Welt, neuer Wahnsinn. Wie gut dass es so böse Megakonzerne wie Mc Donalds gibt: Hier finde ich meine ersehnten 1200 Kilokalorien (Bic Mäc Menü – Medium) für unschlagbare 5,15€.
Dosenbier und Abgepacktes vom Kaufladen dazu.
Im zehn – Bett Zimmer die Nachtruhe (wenn möglich…) für 10€.

Vier Hostels hatte ich abgrasen müssen, alles dicht, alles belegt. Rollkoffer überall, schon gleich am Eingang des Tallinn Backpackers komme ich mit dem Wanderwagen kaum an die ganzen Rollkoffer vorbei, überall superjunge Mädchen die mit ihren Smartphones ihre Hostelworld Reservierungen cheken, Flugbörsen professionell durchsuchen, weitere Buchungen nach überall planen.
Endlich was frei, im Old Town Hostel komme ich unter, der Wanderwagen parkt offen im Raucherhof.

Oh Mann, Tallinn hatte ich mir einfacher, netter vorgestellt.
Dennoch plane ich mindestens drei Tage hier, weiß nur nicht wie genau, weil diese Stadt kostet richtig viel…. und Lust auf dieses Freilichtmuseum habe ich irgendwie auch keine mehr.
Ein Paar Heineken und mir fältt schon was ein.

Tallinn muss im Winter echt wunderbar sein: Im Schnee wenn alles ganz klar blichtet ist, ohne trüben Himmel. Dann sind die gewaltigen Aida und Rollkoffer-Invasoren fern…. und die Stadt gehört wieder den Esten, sowie einigen, wenigen Besuchern die kaum auffallen.
Nicht wenige Lokale haben dann zu, oder reduzieren die Wucherpreise.
Dann wäre man in einem echten Tallinn, wie damals, als es noch unter deutschem Besitz „Reval“ hieß. Das ist gerade mal 98 Jahre her.
Angefangen hat alles mal mit einer hölzernen Burgfestung am Meer, mit kleinem Hafen vor 850 Jahren den die Esten hier aufgrund der guten Lage erbauten. Wurden natürlich aber schnell erobert, erst von Dänem, dann Schweden, dann Deutsche, usw… doch einzig schlimm bleibt ihnen die russische Besatzung historisch im Gemüt; noch bis heute gibt es ordentlich Zoff mit dem großen Nachbarn Russland.
Viele Bürger des kleinen Landes sind etnische Russen, ein Relikt aus Zeiten der Sowjetunion und dem Versuch Estland zu „russifizieren“.
Gelungen ist das nie, und somit auch keine wirkliche Befriedung der baltischen Kulturen mit Russland.

Naja, zumindest sind die Grenzen offen, und wie überall in der Welt wirkt der Wandel durch Handel: Russische Touristen kommen in Scharen aus der Nachbarschaft herbei.
Und auch so viele Esten erzählen so gern von Sankt Petersburg da drüben ….

Mann (und Frau) haben schon Interesse füreinander beiderseits der Grenzen.

Bilder: Tallinn und der Supertourismus…. im Sommer Kulisse, im Winter Tallinn.

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