… Eingeladen in Sillamäe …

Wo?
Ja in Sillamäe, wer kennt es nicht?
Wohl 99% der Weltbevölkerung, wie so viele 15.000 Einwohner-Städte irgendwo in abelegenen Ecken mittelmäßig bekannter Länder.
Immernoch ESTLAND, immernoch kein erster Juni (Visabeginn für Russland), immernoch nicht fertig die nun jetzt 493 Kilometer im kleinen Baltenland.
Ja, 493 sind es nun doch geworden, erst 410, dann so 450 und nun wieder etwas mehr, wegen des Schlenkers zum Peipussee… liegt alles an diesem 01.06.

  • Grenzübertritt –
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Noch 18 km bis zum Tagesziel, und 183 km bis Peterburi .... na, das klingt aber immernoch estnisch, aber nicht mehr lange .... in vier Tagen bin ich "drüben".

Doch erst einmal nach Sillamäe zu Margarita Morozova, die mich über Couchsurfing einlud; erstmal in diese komische Stadt, eine typisch sowjetische Planstadt vom alten Reißbrett, in Stalinbarock wie man hier ironisch sagt.
Ganz anders hier alles: Gerade Straßen, ein Wohnbunker nach dem anderen, aber eben etwas schnörkeliger das Ganze. 1949 wurde hier noch klassizistisch gebaut, also (etwas) in Anlehnung antiker Bauästhetik, so bis 1958, ganze Straßenzüge im pompösen Stil einer herrschenden Arbeiterklasse.
Industrie war (und ist) am aufgeblähten Hafenkomplex drüben an der Ostsee ausgebreitet, endlose Betongeschichten vom Metallhütte bis Energiekraftwerk sind die ersten Eindücke beim Einmarsch in den Ort.

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Typisches "Stalin-Barock Viertel" in Sillamäe, im rechten Block wohne ich bei Margarita und Sascha.

Auch wenn Sillamäe sich so estländisch anhört, ist es fast komplett russisch. Hier ganz im Osten des kleinen Landes ballt sich die postsowjetische Minderheit, ganz nah der alten Ur-Heimat, aus jener die Russen nach 1945 ins „neue Gebiet“ dem okkupierten Baltikum, einwanderten oder gar umgesiedelt wurden.

Mein erstes russisches Gasterlebnis; die 56 jährige Margerita kann nur wenig English, aber egal, der Google Übersetzer kommt gekonnt zum Einsatz, und auch Alt-Akademiker Sascha versteht noch ein wenig.
Beide haben im alten Reich sudiert, die ruppige Margerita sogar was im Astro Bereich, irgendwas koordinations technisches als Bodenpersonal.
Jetzt schult sie um, und ergänzt ihre Freizeit z.B. damit Gäste aus aller Welt zu empfangen, bin schon der dritte Deutsche im Haus, sowie Russen und ein Malaisier (der natürlich sofort kochen wollte) waren da.
Was machen russische Gastgeber so?
Erstmal essen, dann ab auf die Datscha …

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Lecker Essen in der kleinen Küche mit Sascha. Wenig Englisch, ich kann (noch) kein Russisch. Alles egal, es geht auch so.
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Im Schrebergarten lerne ich noch mehr über die russische Seele: Auf der Datscha lebt man gern übers ganze Wochenende. Auch wenn dort eigentlich immer nur Arbeit ist ...
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Auch für den Gast gibt's zu tun: Die Apfelbäume brauchen einen Schnitt. Perfekt um mich für die Gastlichkeit erkenntlich zu zeigen.

Wirklich alles ist hier Handarbeit, jeder Zentimeter irgendwie geflickschustert und sonst wie gezimmert, verdrahtet und gerödelt am und in der Datscha, Sascha werkelt nun seit Jahren daran herum, ist soweit schon fast fertig, aber wirklich fertig?
Darf eine Datscha eigentlich nie werden.
Was sollte man denn sonst noch tun hier, wenn alles einfach fertig ist?
Ich kassiere noch ein paar Zwiebeln aus dem Garten für meine Wanderschaft, ein dickes Glas Tomatensaft auch noch (hatte ich letztens bei Ryan Air so vermisst …).

Ich verbringe den Abend Zuhause mit Margerita, Sascha blieb auf der Datscha (sowas machen russische Ehemänner sehr gern, vor allem um mehr und ungestörter trinken zu können, wobei in diesem Fall, Sascha ausnahmsweise mal kein Trinker ist) und ich hatte nur noch wenig Power lange in die Nacht zu wachen; scype mit Mama und Freund Georg (dazu mehr am Textende) erzähle der weitgereisten Russin Margerita meine Pläne, erfahre von ihrer neuen Freude am malen.

Margerita ist vom Kern eine wunderbar gütige, mütterliche Natur mit viel Verstand und einer selten objektiven Gabe die Dinge zu verstehen; in ihren Bildern spiegelt sich wohl der komplexe Geist ihres vielschichtigen Wesens wieder, was mich schon sehr beeindruckt hat.
Sie malt erst seit kurzem, und erfreue ihr Gemüt mit der erfrischenden Idee, ihre Werke doch zu verkaufen … um so freudiger wäre es, wenn ausgerechnet jemand aus meiner lieben Leserschaft eines ihrer Bilder erwirbt. Teuer sind sie nicht, aber dafür sehr authentisch.
Margerita wäre erstmal über mich zu erreichen, (am besten über mein Facebook) – einfach melden und ich vermittel euch. Ist noch alles neu für sie..

Noch sehe ich das Meer, hier am „Finnischen Meerbusen“, eine lange Bucht die bis St. Petersburg geht, und von dort ich dann satte 12.000 Kilometer (!) dann keine Meeresbriese mehr schnuppern kann, die wohl weiteste und längste Überlandtour meines Lebens (und auch weltweit mögliche) steht dann bevor; einmal quer durch Russland bis rüber, ganz hinten zum Pazifik.

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"Tief im Westen" hier an der östlichen Ostsee, werde ich wohl noch lange denken in Zukunft, wenn's schier endlos in die Weiten Russlands, ja Nordasiens geht .... (Kieselstrand bei Sillamäe)

Es ist fast 19 Uhr jetzt, wieder total warm und sonnig, bin nur 21 km gewandert bis zur eigentlich stinklangweiligen Waldsiedlung Narva Joesuu, ein Zweit/Dritthaus – Ferienhaus Ort, der sich ewig langzieht und direkt vor Russland endet. 100 Meter über die Narva, dem Grenzfluss gucke ich auf das ersehnte Riesenreich; völlige Wildnis drüben, kein Haus, kein Garnichts, nur Schilf und Wald ….
Ich trinke Margeritas Tomatensaft und träume vom akkorat gemähten, estnischen Rasen aus hinüber in die Pampa… mein Gott, was ich mich auf dieses Land freue …

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Da drüben ist Russland, hier überall Leben, dort nur Wildnis, .... und natürlich Millitär.

Morgen noch schlappe neun Kilometer bis zur finalen Grenstadt Narva, wo ich noch eine Nacht bleibe. Das Zelt steht bereits wieder im Grünen, wie immer etwas Abseits der Straße, 9 km vor Narva. Georg ruft wie immer aufs Handy an, und höre diesmal nichts Gutes vom Jakobsweg: Die Füße machen ihm sehr zu schaffen, ganz gegen der Erwartung dass eigentlich sein komplexes Rückenleiden auf dem Plan käme, mitnichten, und gottseidank, der Rücken kann entzücken, tut ihm fast garnicht mehr weh. Aber wieder muss er einen Tag aussetzen, muss die wunden Treter einfach ruhen lassen. Er ist jetzt in Toul angekommen (Lorraine, Frankreich) und muss wohl (wieder) einen Ruhetag im Hotel einlegen.
Eine schwere Probe im Fernwander-Leben.
Ich bin bei ihm, sende ihm Meilen die mir vergönnt …

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