Ostashkov (17.500 Einwohner)

28.06.2016.

Mein Tag in Ostashkov, welch ein Genuss; gestern noch kurz vor Exitus, heute schon wieder wohlauf wie in Putins Schoße.
Die interessante Kleinstadt liegt inmitten dieser waldreichen Gegend, sanfter Hügel der Waldaihöhen. Sehr idyllisch gelegen in Halbinsellage am Seliger-See, eines der wichtigsten Ausflugsziele im weitläufigen Westrussland. Gestern noch sprach ich in meiner Not mit einem Moskauer Touristen, einem Hotelgast, der vom Englischen ins Russische übersetzte, der Prozedur der überforderten Dame am Hotelschalter an Dramatik nahm; ich sei hier überhaupt der erste Ausländer; Visa, Passport und Registrierungs-Dokumenten Stress waren ihrerseits angesagt.

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Wieder platt wie eine Wander-Flunder liege ich danieder, diesmal aber im Hotelbett. Auch wenn das Zimmer fast 1000 Grad heiß ist, puuuh.

Als Tourist ist dieses Ostashkov wirklich sehr interessant: Ohne Stechfliegen, Blutrünstigen Moskitoschwärmen und drohenden Hitzeschlägen, kann man hier leicht mit dem Überlandbus anreisen, schön einfach und bequem, hier mal eine sehr spezielle Ortschaft entdecken; Vor über 230 Jahren großflächig im rechtwinkeligen Straßenraster, zerfällt heute Ostashkov an allen Ecken, wo der Blick hinfällt, alles bröckelt.
Ein bischen Indien-Feeling hier in der russischen Provinz, eben nur nicht so überbevölkert, sondern im Gegenteil: Auch die einst stolze Perle am Seligersee schrumpft in eine kuriose Zukunft; noch 27.000 Einwohner stark, (1989) verlor der Ort seitdem fast 10.000 Menschen. Das sieht man hier auch auf Schritt und Tritt, Prunkfassaden blättern oder brechen komplett zusammen. Ostashkov aber kämpft, wenn auch recht aussichtlos gegen den Totalzerfall, nur ein Wunder kann hier noch eine urbane Perspektive im Großen und Ganzen erschaffen.
Eines der wohl neuesten Gebäude dürfte mein Hotel sein, ganz weit oben an der Halbinsel wie ein Phoenix aus der Asche steigend, zwar alles andere als historisch, aber eben makelos neu in offensichtlicher Billigbauweise.

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Der Blick von meinem Zimmer abseits des Seliger Sees.

Sommertourismus, vor allem aus der Megastadt Moskau, sorgt wenigstens für etwas Wirtschaft hier draußen in der Provinz, dennoch scheinen die Mittel kaum zu reichen zur Erhaltung der historischen Substanz Ostashkovs.

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Die 335 Jahre alte Orthodoxe Kathedrale, nahe meines Hotels brökelt den Jahrhunderten entgegen.
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Hier ist der Reisende noch allein mit der alten, historischen Welt, ganz ohne Touristenmassen.
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Wer sieht mich? 1000 Rubel sind zu gewinnen. ...Bei all den gnadenlos sonnigen Hitzetagen auf der Straße, muss es ausgerechnet heute grau und düster sein.....
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Die langen Straßen, dicht bewachsen, der Gesteig versandet und wahrhaft unglaublichen Fassaden, total brach und vergessen.
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Abseits der Hauptwege lottern die Quartiere der Einheimischen vor sich hin, sind teils sogar abgebrannt.

Russland = viele Länder; wieder bin ich in einer neuen Region, nach insgesamt 323 km durch die Novgorod Oblast, ziehe ich nun durch die Tver Oblast (Tverskaja Oblast) einem 84.000 Quadratkilometer großen Gebiet, also etwas größer als Österreich, aber mit 1,315 Mio Bewohnern nicht einmal 20% so Einwohnerreich.

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Die Tver-Region, flächenmäßig so groß wie Österreich ist nun für die nächsten Tage mein Wanderrevier.

Mit der Großstadt Tver, der Gebietshauptstadt, fasse ich nun ein neues Zwischenziel ins Auge, auf dem Weg weiter nach Moskau, was dann schon zu greifen nah wäre.
Und was mache ich morgen nach dem Dilemma der elenden Waldstraße?
Ich werde die restlichen 135 Kilometer zur großen Hauptstraße nach Tver/Moskau auf keinen Fall zu Fuß schaffen, wieder kommen da kaum Ortschaften, wieder Blutfliegen, wieder nur Sümpfe, wieder alles eine Fars, fürchte ich.
Morgen versuche ich mal das Abenteuer Überlandbus, der in alt-russischer Bauweise gerade mal eine Handtasche als Gepäck erlaubt, und hoffe gottesfürchtig, dass der Wanderwagen irgendwie da drinn Platz findet.

Jaja, auch sowas ist Wanderleben: Ich denke so 5% des Weltweges notgedrungen mit Bus oder Bahn zu machen, Krankheit, Schneestürme, wichtige Termine, oder extreme Wiedrigkeiten sollen Grund genug solch erheblicher Entlastung sein.

Die 45.000 Einwohnerstadt Torzhok ist morgen das Ziel, die liegt an der ganz großen Straße nach Moskau, an dem Highway weiter nach Kazan, weiter bis Wladiwostok.

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Ganz Russland auf dem Bierglas; Posten und genießen.... bald kommen sicherlich wieder bittere Zeiten....