In der tiefsten Provinz, oder Mittendrinn?

Staraya Russa suchte ich mir auf der Landkarte aus, fand den Ort zwischen den Flüssen, abgelegen auf der anderen Seite des großen Ilmensees irgendwie mal spannend, weil sicherlich sehr authentisch, provenziell.

Die Alternative wäre ja die schlimme Megastraße zwischen Moskau und Petersburg gewesen, nein danke, lieber über die Dörfer nach Moskau…

Meditativ schreite ich über den heißen Sand des Seitenstreifens, erschlage ab und zu mal eine der so lästigen Fliegen, und komme irgendwann in diesem Staraya Russa an, laufe weit hinein, vorbei an lockerer Einzelhausverbauung, allerdings alles alte Holzhäuser. Es liegt viel Sand am Straßenrand.

Dann aber erstrahlt sie, die heute genau 1001 Jahre alte Salzstadt, als der Wanderwagen über diese Holzbrücke rollt und der Blick rechts zur glänzenden Kathedrale gleitet.

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Es sprießt das Grün, aber auch Kultur in Staraya Russa: Die Hauptkirche im Ort verschafft schnell eine Seele wo zuvor keine war....

Ja, eine Seele, – was Orte, so einzigartig sie sind, wie Menschen haben.
Und menschlich treffe ich gleich zwei gute Seelen hier; Tamara und ihr Freund, beide Anfang dreißig, sorgen nicht nur für eine Couch zum schlafen, sondern bringen mich noch eben 30 km zum Ilmensee, bade dann doch noch in den braunen, aber sauberen Fluten.
Zurück Daheim, bereitet Tamara ganz, ganz lecker ein Himmelreich für den Bauch. Zuvor aber ging’s typisch russisch zur „Zapfstation“.

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So macht man das hier: Biersorte aussuchen, dann sich ein, zwei Liter frisch zapfen lassen und ab nach Hause damit.

Das hätte ich allen wegen der Sprachbarierre niemals allein geschafft.

Morgen bleibe ich dann im Ort, werde aber mal nach ganz neue Mode vorgehen und mir ein Hotelzimmer für 20€ gönnen. Relaxen total zum 38 Geburtstag, wobei der auch ein Tag später ist, aber egal.

21.06.2016.
Auf gehts in der Früh zum nächsten Journalistenmeeting, verabredet im Tourist Office wo ich dann Vlad und seine Chefin Elena treffe.

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Couchsurfing-Gastgeberin Tamara (rechts) mit Journalist Vlad und Mitarbeiter des Touristenbüros von Staraya Russa.

Wieder steht das Wanderleben im Fokus, Vlad fragt alles mögliche und Tamara bleibt schön an meiner Seite, übersetzt jedem der kein Englisch kann Fragen und Antworten zum „Deutsch-Russischen Freundschaftslauf“.

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Natürlich gibt es zum Interview den echten "Staraya Russa Kuchen". Mmmmmhh, lecker.

Jede Stadt in diesem so unglaublich weiten Land ringt und kämpft um Anerkennung, weiß ich doch so zimlich garnichts über den Ort mit dem speziellen Namen.
„Goßer Russ“ soll der Name aus alter Historie einer damals großen, reichen Salzstadt bedeuten. „Russ“ was ja bekanntlich einen Reichs-zivilisatorischen Ansatz beschrieb.
Alles längst vergangene Zeiten, und heute lebt der 29.000 Einwohner Ort von seinen Salzquellen, dem Thermalbad und dem historischen Erbe.

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Bei Tee und Kuchen funktioniert die Deutsch-Russsiche Konsultation ganz neutral auf Englisch.

Jaja, was man braucht ist einfach Zeit, und die hab ich zum Glück mal heute.
Vlad, sein Fotograf und Tamara schmieden den Plan, heut das Wanderleben zum Stadtgespräch zu machen, zeigen mir was noch so alles der auf den ersten Blick so schrullige Ort mit all den verfallenden Häusern, zu bieten hat.
Und das ist nicht wenig: Salzquellen haben vor über einem Jahrtausend hier die erste Siedlung entstehen lassen. Damals noch das „weiße Gold“ des Hochmittelalters ein Garant für Reichtum dieser Zeit.

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Da sprudelt sie, die Fontäne im Herzstück des 160 Jahre alten Kurortes, gespeist von Kräften unterirdischen Drucks, wo ein riesiger Salzsee verborgen liegt.
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Das war die Quelle vor dem zweiten Weltkrieg, der die ganze Stadt fast komplett zerstörte. Als die historische Salzgewinnung nicht mehr lohnte, wandelte sich um 1850 der Betrieb zum Kurort. Staraja Russa wurde ein Heilbad, was es bis heute ist.

Ein großer Komplex öffent sich hinter all den Bäumen, parkähnlicher, innerstädtischer Bewaldung. Museum und Kurbad zugleich mit viel liebevoller Darstellung einer bewegten Geschichte, im allerdings etwas kuriosem Tropenfeeling großer Topfpalmen hinter Glas.

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Das soll ich mal trinken, und zapfe mir mal einen gesunden Quelldrink.
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Jaja, und alles komplett Alkoholfrei! Leicht salzig aus den Tiefen der weiten Erde einen Becher Gesundheit pur.
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Schön gemacht und anschaulich; die Seele einer Person, wie ein Ort auch in seiner Individualität wirken kann, lerne ich die Eigenheit der Stadt zu erkennen, illustriert in all den Glaskästen.

Draußen kann man natürlich auch baden im Salzwasser, Hotels und Heilklinik in immernoch provinziellen Einerlei einer Kleinstadt sind die Hoffnung auf Tourismus, der jetzt mit Kraft und Lust ausgebaut werden soll, und bekomme das bald in vollen Zügen zu spühren…

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Großes Meeting im mittelalterlichen Holzdorf von Staraja Russa, ein gedeckter Tisch und genial buntes Volklore warten auf den offenkundigen Botschafter der Wanderlust.

Eingeladen: Umgeben von bunten Trachten begrüßt mich der Besitzer der Einrichtung mit der traditionellen Art etwas Salz mit ein Stückchen Brot zu essen.
Erst glaube ich das hier alles nicht, bin ich hier der Protagonist?
Offenbar, komme mir ja schon wie ein Botschafter vor und finde mich rasch in der Mitte eines regen Austausches wieder. Immernoch übersetzt die gute Tamara fleißig.

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Ausführlich beschreibt Sergej, dem hier alles gehört, die alte Holzbaukultur einer ehemals reichen Salzstadt im Mittelalter. Man sagt auch, dass die Banja (russische Sauna) hier in den heißen Salzpfannen-Häusern erfunden wurde.

Und damit noch nicht schluss: Erst wurde ich eingeladen in einem städtischen Kommunalhaus zu übernachten, und nun steigert sich die russische Gastlichkeit zum Tourist-Resort, weit draußen auf dem Lande….. soll ich das jetzt mal alles glauben?
Tamara lädt mich noch eben zum Essen ein, ich bin satt und voll, ob der Bauch oder im Herzen; welch eine Freude jetzt hier in diesem fantastischen Land zu sein.

….Es scheint offensichtlich zu funktionieren: Der Deutsch-Russische Freundschaftslauf beginnt wirklich zu leben…..

Ein Gedanke zu „In der tiefsten Provinz, oder Mittendrinn?

  • 22. Juni 2016 um 12:46
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    Lieber Jens, liebe Leser,

    Brot und Salz – eine alte Sitte.
    Und das ist auch hier in Deutschland eine alte Sitte.
    Neu zugezogene Nachbarn kann man so willkommen heissen.
    Eine Sitte, die uns Menschen verbindet.

    Grüße Mechthild

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