Endlich, endlich in Ostashkov…

28.06.2016

Total abgrissen, dem Wahnsinn nahe, bin ich gestern mit allerletzter (!) Kraft doch noch angekommen…
Nicht die Hitze (der russische Asphalt schmolz sogar), nicht die unübersichtlich vielen Kilometer, und auch nicht der Mangel an sauberen Wasser und genug zu Essen haut mich um, sondern die Fliegen und Mücken schaffen jeden Elefanten in den Amok zu treiben …..

Jetzt nach dieser tage(und nächtelangen) „grünen Hölle“ total eintönigen Buschwaldes, muss ich es mir einfach leisten: Ein Hotelzimmer in der Oasenstadt Ostashkov, ja „Oase“ nach all diesen extremen Tagen im endlos-dauerkampf gegen Legionen verschiedenster Blutsauger, im gnadenlosen Krieg gegen mich auf jedem Meter. Ein unglaubliche Erfahrung, einfach unglaublich!

Zuletzt konnte ich noch vor Tagen im Ort Demyansk rekordverdächtig viel einkaufen, schon im klarem darüber, dass dann einige Tage nichts kommt, lediglich kleinste Dörfer, ohne jeden Laden, ohne alles…

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Das Kaff Demyansk (5.000 Einwohner) war allerdings gut zum Einkaufen. Ansonsten fand ich hier nichts Interessantes, außer seine historische Bekanntheit: Der "Kessel von Demyansk" war einer der dramatischsten Kampfhndlungen des zweiten Weltkrieges. Sozusagen wandel ich hier auf altem Frontgebiet des deutsch-russischer Krieges.

Sechs Liter Wasser, zwei Liter Bier, Konserven (Bohnen), Käse, Wurst und Schokolade, sowie ein Paar Äpfel ließen den Wanderwagen fast zusammenbrechen.
Sicherlich gute 38 Kilo schob ich nun über den löcherigen Asphalt am Rande der Straße, raus aus dem Ort nach Süden, schlug ich mich in den Wald und baute das Zelt auf, halb dem Erstickungstot nahe, durch panikhaftes einsprühen giftigen Anti-Moskitosprays.
Die kurze Outdoordusche mit der Plastikpulle, abgefüllt mit Leitungswasser von der letzten Cappuccino-Stärkung in der „Lena Bar“ von Demyansk, schlug total fehl. Die Viecher ließen diesmal keine einzige Sekunde von mir ab, wärend ich den Kopf einseifte und wässete, schlug ich wild auf Beine und Po, spührte trotz all dem Wasser dort die flinken Stiche…. stürzte nass, voller Seifenschaum zurück ins Zelt.
Die anschließende Lappenwäsche dauerte zwar lang, war aber dann auch sauber, klebte nicht mehr so. 30 Grad waren es hier im russischen Busch mal locker.

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Zig Kilometer nur dieser Anblick, links und rechts der Straße. Und bloß nicht da rein gehen.... Das Dickicht dieses allgegenwärtigen Schwachholzes, gleicht einer Moskito-Millionenstadt ohne Ende.

Am nächsten Tag hoffte ich im Dorf Molvotitsy auf Zivilisation, nach langem, eintönigen Gang im Dauerkampf gegen dicke Stechfliegen die immer wieder zur kollektiven Hochform zu Großangriffen auflaufen.
Dort aber gab es rein garnichts, konnt wenigstens an der Kreuzung pausieren, da die Insektenplage in Siedlungen, mögen sie noch so klein sein, viel weniger auftreten.

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Molvotitsy hat wie viele russische Dörfer keine historische Kirche, sondern nur eine hölzerne Kapelle, weit am Rande zum Friedhof gelegen.
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Der Dorffriedhof von Molvtitsy, typisch russisch mit Portaits auf den Grabsteinen. Russische Friedhöfe sind viel bunter als bei uns, oft aber mit schrillen Plastikblumen verziert, bleibt ein Grab traditionell für ewig erhalten. Irgendwann nach ewigen Jahren verwildern die Gräber, und es ist Unsitte es dann zu entfernen. Russland ist groß, und Platzmangel gibt es hier kaum, sodass ein Grab für immer besteht.

Diesmal unter rauschenden Kiefern fand ich ein besseren Schlafplatz, war umsichtig mal nicht in der Nähe eines Sumpfes zu zelten, was allerdings hier nicht einfach ist; überall bestimmen Sumpfwälder die eintönige Landschaft.
Jaja, ich dachte eigentlich – einst mit dem Finger auf der Landkarte, weit abseits des Highways nach Moskau, hier über die Dörfer, entlang der langen Pisten durch die Einöde, den Reiz einer idyllischen, landschaftlich schönen Wanderung zu genießen.
Pustekuchen: Was auf der Karte in malerischen Serpentienen vorbei an Flüssen über hügeligen Höhen ein besinnlich, malerisches Wandererlebnis verspricht, langweilt in Wirklichkeit in permanenter Eintönigkeit niederen Buschwaldes links, rechts und gradeaus der Straße. Kilometer um Kilometer, ohne Fernsicht, ohne Ausnahme.

Lediglich die teils verlassenen Siedlungen (weiß nicht ob es „Dorf“ oder sonstwie genannt werden soll) schaffen Abwechslung; überall zerfallende Holzhäuser, und immer wieder ein Hof voller Leben dazwischen, Blumen, Gemüse, gepflegte Obstbäume, geparkte Autos, schrill gestrichende Bretter.

Die Ess und Getränkevorräte hielten sich gut, ich schlemmte Abends Unmengen, beeilte mich all den Käse zu verspeisen der bei dieser Hitze völlig verschwitzt, trank nahezu warmes Bier. Gewohnheit schafft in jeder Lage für Wohlbefinden.

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Bei der Hitze hält's man nur nackt im Zelt aus. Das Netzfenster, klein genug um die ganzen Stechviecher zu kontrollieren, kann ab und zu offen für etwas Frischluft sorgen. Uff...Russland = Heiß-Land.

Zu viel zerlaufenden Käse gegessen, verschmolzende Schokolade hinterher. Dazu eine Dose Bohnen von Heinz. Bauchweh plagte mich diese Nacht, und der nächste Tag sollte noch heißer werden….

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Toll, was auf der Landkarte eine idyllische Landstraße zu sein schien, war in Wirklichkeit eine verdammte Sandpiste, ohne verdammten Schatten bei maximaler Hitze des kontinentalen Sommers ....

Die dünnen Räder des Wanderwagens schoben sich tief in den heißen Sand, ich schleppte mich wahnsinnig schwitzend ganz rechts des Weges über die endlosen Kilometer. Manchmal warf einer der wenigen, höheren Bäume wenigstens ein bischen Schatten.
Doch das Schlimmste schafft selbst ein Foto nicht zu halten: Blitzschnell umschwärmten mich große Stechfliegen (Wadenstecher) die schmerzhaft jeden Moment nutzten um blutig zu pieken.
Ein blanker Horror bahnte sich erbahmungslos an…. es gibt kein Entkommen, weder vor noch zurück.
Manchmal umzingelten mich um die 100 Fliegen, wohl zwei, drei verschiedene Sorten, sind laut, schworren entweder als Kleinfliege pendelartig, zentimeter vor Nase und Augen, oder stechen nadelartig gleich durch das Hemd, natürlich gern von hinten in den Rücken, löcherten nahezu den sonnenverbrannten Nacken.

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Gas geben, einfach nur Gas geben. Ein planerischer Irrtum ließ mich nun in die Falle laufen; kaum noch Wasser im Gepäck, den Fliegen und Moskitos zum Fraß, kämpfte ich mit jedem Kilometer.... kein Mensch weit und breit, ich musste einfach nur weiter, weiter und weiter.......

Um ganze 20 Kilometer dürfte ich mich vertan haben. Hört sich mal garnicht so schlimm an, aber auf ohnehin 35 km Tagesetappe obendrauf, zu Fuß, ohne jeder Möglichkeit einfach in den Bus zu steigen, oder zu trampen, eine recht haarige Sache.
Zudem wusste ich nicht wie das mit den Stechfliegen weitergehen soll; wie lang hält das ein Mensch überhaupt aus? Ich erschlug unzählige, klatsche tausendmal daneben um den flirrenden Wahnsinn direkt vor den Augen zu bekämpfen, schnell, irre, und irgendwie sinnlos pendeln diese Minifliegen ständig vors Gesicht. Manchmal in Kamikaze-Manier direckt hinein ins Auge… verenden dann dort und ich musste aufwendig die tote Fliege dem Augenlied entknibbeln.
Zudem die Augen brannten vor Schweiß, ja sogar ein großer Brummer direckt in den Mund zum Angriff flog, ich instinktiv zubiss, das zermalmte Insekt in den Staub spuckte….. mann, was passierte?

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Irgendwo auf der Piste zur grünen Hölle eine Spur der Zivilisation: Halb zugewuchert das Grenzschild zur neuen Oblast, die ich jetzt betrete.... Zeit den Übergang zu fröhnen ließen die Moskitos, Fliegen, usw nicht... ich musste nur noch weiter...........

Irgendwann glaubte ich zu träumen, als graue, lotterige Holzhäuser auftauchten.
Ein Dorf, offenbar Svapushcha am See gelegen, gab Hoffnung auf frisches Trinkwasser. Doch mitnichten war der Dorfladen offen. Ausgerechnet heut ist Sonntag…. ich sackte elend zusammen und überlegte fieberhaft wie nun an Wasser kommen?
Die wenigen Leute hier fragte ich und wurde des Brunnens gewiesen.
Welch ein Glück, gleich zwei Geländewagen mit bulligen Fahrern parkten dort, füllten sich in riesigen Kanistern das langsam fließende Naß aus der Tiefe ein.
Ich wurde vorgelassen, mit Händen und Füßen erklärend was ich mache, laufe nach China….
Das sollte mir sogar zu zwei Flaschen Bier verhelfen, die mir die begeisterten Leute aus dem Kofferraum kramten. Zu Essen fanden sie nichts, und so zog ich zumindest mit neuen Wasservorräten weiter. Noch 50 Kilometer bis zur nächsten Stadt….. mitnehmen konnte mich keiner der Leute hier, natürlich wollten die ganz woanders hin.

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Das einzige mal ein Blick auf freies, weites Land beim Dorf Svapushcha, wo auch ein wenig Verschnaufpause im Dauerkampf mit der Welt der Insekten angesagt war.

Bei aller Freude über das kalte Brunnenwasser, ich trank fast einen ganzen Liter aufeinmal, musste ich einiges an Essen wegschmeißen; die Wurst sowie Käse sind ecklig verschmiert von all der Hitze über die Tage, einfach zu gefährlich das noch zu essen.
Auch das Schnittbrot schimmelte viel schneller.

Lediglich die Bohnen blieben als Restnahrung für die nächsten 50 Kilometer, na toll…

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Mitten im Moskito-Hotspot baute ich meine Festung. Zwar uneinnehmbar für den Feind, aber auch ein Gefängnis für mich...

Die anstehende Nacht sollte zur schlimmsten Hölle des ganzen Wanderlebens werden; erst gut gegessen, reichlich Bohnen, das geschenkte Bier, endlich wieder ein telefonat mit Georg (über Tage gab es hier kein Handynetz), wachte ich mit heftigen Bauchschmerzen um Mitternacht auf.
Draußen sirrten unzählige Moskitos so laut ums Zelt, dass ich das Kissen über die Ohren drückte um Ruhe zu finden. Doch es kam schlimmer; Durchfalldruck verlangt jetzt eine Auslieferung an den Feind.
Ich musste da raus, Zeit blieb nicht….
Bei ca 120 Mückenstichen die beim Zeltaufbau zuvor, aber auch (trotz Mückenmittel auf der Haut) über die Tge zusammenkamen, tun die Gelenke weh, Übelkeit kam dazu und ein allgemeines Krankheitsgefühl.
Raus, nur noch raus…….. ich scheiß mich sonst ein, renne ich voller Kluft, schwitzend durch die schwüle Nacht aus dem Gras, raus auf die verlassene Straße, hockte mich hin und konnte es nicht fassen das sekundengenau zig Moskitos auch hier vor Ort sind.
Die Natur forderte ihr Recht, ich kassierte unzählig weitere Stiche, nun dort wo’s wohl als einzige Stelle zuvor noch keinen Stich gab….

Ein Hechtsprung zurück ins Zelt, Taschenlampe an, Mücken erschlagen die es reingeschafft hatten….. Kopf wieder raus, übergeben…..

So sollte wohl das Ende aussehen… es gibt in solchen Momenten einfach keine Gedanken mehr. Ich wollte nicht mehr, wollte nicht…. nahm mir fest vor, drei Tage später in Recklinghausen zu sein.
Es sollte vorbei sein.

Sowas hilft, zumindest schlief ich irgendwann mal wieder ein, konnte ca 2-3 Stunden Gesamtschlaf verbuchen, bevor der Trip weiterging; irgendwie ca 40 Kilometer bis Ostashkov.
Schaffe ich nicht, dachte ich.
Trampen also….

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So sehen 95% des Weges, 250 km seit Staraja Russa bis Ostashkov aus. Endlos, endlose Buschstraße.

Wie schon einmal vor Novgorod war ich verloren auf weiter Piste…. versuchte unbedingt die Autos anzuhalten, aber wieder stoppte niemand.
Wieder griffen die Stechfliegen an…. bei Kilometer 30 ungefähr, drohte der Verstand zu schwinden, sang irgendwas, sprach laut um noch was zu spüren.
Ich drohte zu kollabieren, hatte manchmal diesen Schwindel, ganz anders wie noch nie, in einer finalen Qualität. Woher auch all die Kraft nehmen…? Woher kommt überhaupt noch irgendwelcher Antrieb?
Georg rief öfter aufs Handy an, sprach mir Kraft zu und irgendwie, keine Ahnung wann oder wie, tauchte diese Siedlung auf…..

Was war passiert?

Eine schlechte Planung und Unwissenheit über eine extreme Natur in einem extremen Land hatten fast zum Exitus geführt.. .und das noch nicht einmal irgendwo in Sibirien, sondern weit vor Moskau.

NIE WIEDER ÜBER DIE DÖRFER!

Jetzt nur noch entlang der ganz großen Straßen…. auch wenn statt Monsterfliegen dann die Monstertrucks die Regie übernehmen….

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Auf den letzten Kilometern vor Ostashkov schmilzt nicht nur der Asphalt bei 35 Grad, sondern auch das Gehirn, - kein Wasser mehr, nur noch Stechfliegen, Rinderbremsen, Moskitos ....

Ich wache auf, um mich dicke, weiche Kissen.
Ein Traum?
Hoffentlich nicht. Glatt, sauber, gewaschen die gepeinigte Haut, satt der Bauch und weich gebettet der ganze Jens inmitten der historischen Kleinstadt Ostashkov, inmitten schöner Seen…. ganz exclusiv in einem der Hotels.
Zwei Nächte für 4000 Rubel (50€). Das muss jetzt einfach sein.
Zwei Nächte, dank eurer Spenden; 290 € insgesamt habt ihr dem Wanderleben zukommen lassen, sodass es weitergehen kann.
DANKE FÜR ALL DIE HILFE.

Zeit, heute zu überlegen wie’s weitergeht. Noch 120 km „grüne Hölle“ bis zum Highway nach Moskau.

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